Frankfurt/Main

»Mein Herz blutet«

Der Hamas-Überfall vom 7. Oktober beschäftigt auch die Frankfurter Senioren bis heute Foto: picture alliance / AA

An der Wand hängen viele Fotos - Familienbilder. Auf einem blickt eine lebenslustige junge Frau über die eigene Schulter. Es ist Maya Rizely-Ogly, die direkt nach der Scheidung von ihrem ersten Mann zum Fotografen ging, um ihre Stimmung festzuhalten. So erzählt es die heute 90-Jährige schmunzelnd, bevor sie sich an diesem sonnigen Tag auf den Weg in den Garten macht.

In der schon herbstlichen Luft trägt sie einen weißen Hut und einen Poncho in gedeckten Farben, was elegant aussieht. Langsam spaziert sie durch den Garten, vor sich einen Rollator, und grüßt nach links und rechts. Man kennt sich, hier im Altenzentrum der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main. Rizely-Ogly lebt seit 2019 hier - und seit 24 Jahren in Deutschland. Wie viele Jüdinnen und Juden kam sie aus der früheren Sowjetunion. Wer von ihnen in den 1990er Jahren einreiste, galt hierzulande als »Kontingentflüchtling«.

Größtes jüdisches Altenheim in Deutschland

Im Altenzentrum stammen etwa 60 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner aus Staaten der früheren Sowjetunion, wie Sandro Huberman, einer der Einrichtungsleiter, sagt. Unter ihnen sind Überlebende des Holocaust - manche waren in Lagern - und auch Menschen, die vor dem russischen Krieg in der Ukraine flohen. Trägerin ist die Jüdische Gemeinde Frankfurt, die zu den größten bundesweit gehört. Das Altenzentrum ist nach Gemeindeangaben wiederum das größte jüdische Alten- und Pflegeheim in Deutschland.

Demnach gibt es 153 Plätze im Pflegeheim für Ältere, 21 im Wohnhaus für jüngere Pflegebedürftige mit Behinderung, 13 Plätze in der Tagespflege und 111 Wohnungen für ältere Menschen im Betreuten Wohnen. Drei Viertel der Bewohnerinnen und Bewohner sind jüdisch. Gemischt ist auch die Belegschaft, was Herkunft, Sprachkenntnisse und Religion angeht.

Rizely-Ogly stammt aus Baku und wuchs in Moskau auf. Sie wurde Bauingenieurin, lebte auf ukrainischem Gebiet und spricht Russisch. Eine Mitarbeiterin des Altenzentrums übersetzt. Sie möchte namentlich nicht genannt werden, aus Vorsicht, wie sie sagt. Eine solche Vorsicht ist seit dem 7. Oktober 2023 verstärkt zu spüren. Seit den Massakern der Hamas in israelischen Ortschaften nahe dem Gazastreifen und auf einem Musikfestival sowie dem folgenden Gazakrieg ist für Jüdinnen und Juden die Welt nicht mehr dieselbe.

So lag in Deutschland die Zahl antisemitisch motivierter Straftaten im vergangenen Jahr laut Bundeskriminalamt auf einem Höchststand mit 5.164 Delikten inklusive 148 Gewalttaten: Der massive Anstieg sei vor allem auf den Anstieg nach dem 7. Oktober zurückzuführen. Zum Vergleich: 2022 waren es 2.641 Delikte, davon 88 Gewalttaten.

»Es ist schmerzhaft«

Aufmerksam verfolgt auch Rizely-Ogly die Ereignisse in Nahost - zusätzlich zu den Nachrichten aus der Ukraine. »Mein Herz blutet, es ist schmerzhaft«, sagt sie angesichts der beiden Kriege. Zwei Cousinen wohnen in Israel. Sie sagten, sie seien okay, berichtet Rizely-Ogly.

Über einen dritten Krieg möchte sie offenbar nicht sprechen. Den Krieg, für den die Nationalsozialisten verantwortlich sind, und den sie als Kind erlebt hat. Immer wieder berichteten Schoah-Überlebende nach dem 7. Oktober, dass angesichts des brutalen Mordens der Terroristen, der Entführungen und des Auseinanderreißens von Familien Erinnerungen an die eigene Verfolgung hochkämen. Darauf angesprochen und auf ihre Erlebnisse während des Zweiten Weltkriegs übersetzt die Mitarbeiterin: »Sie versucht zu vergessen, was schlimm war, und ist ein positiver Mensch.«

Leonid Vinderman ist 95 Jahre alt und lässig gekleidet. Er bittet an einen Tisch in seinem Zimmer und ist zu Scherzen aufgelegt. Kurz zuvor schaute er Nachrichten. Er stammt aus der rumänischen Stadt Vaslui, die eine große jüdische Gemeinde hatte. Sein Vater war Soldat in der rumänischen Armee, die Familie lebte religiös: »Unser Haus war ganz koscher.« Auf dem Tisch vor ihm liegt eine Kippa.

»Unser Haus war ganz koscher«

Im Zweiten Weltkrieg wurde er mit seiner Familie in die Sowjetunion verschleppt, es gab Überfälle und Schläge, wie Vinderman mit Tränen in den Augen erzählt. Eine seiner Schwestern habe das nicht überlebt. Weiter sei es nach Usbekistan gegangen, wo die Entbehrungen so groß gewesen seien, dass eine zweite Schwester und die Mutter starben. Das Kriegsende hätten er und sein Bruder in einem Kinderheim erlebt. Der Vater sei im Krankenhaus gewesen und später gestorben.

Er sei Messtechniker gewesen, habe seine Frau im ukrainischen Czernowitz kennengelernt und mit ihr zwei Töchter bekommen. 1992 kam die Familie als »Kontingentflüchtlinge« nach Deutschland, seit 2022 lebt Vinderman im Altenzentrum. In der Frankfurter Gemeinde war er im Gemeinderat aktiv.

Der seit dem 7. Oktober massiv gestiegene Antisemitismus überrasche ihn nicht, sagt Vinderman: Es sei ein »schwerer Fehler« der deutschen Politik gewesen, Millionen Geflüchtete und damit zahlreiche Antisemiten aufgenommen zu haben. Man hätte besser prüfen müssen, wer ins Land komme. Vinderman spricht von mangelnder Integration. Er selbst habe bisher keine Probleme mit Antisemitismus gehabt - und fühle sich aktuell auch nicht an die Nazi-Zeit erinnert, denn die Antisemiten seien heute in der Minderheit.

Das Altenzentrum als Brennglas der Gesellschaft

Patrick Wollbold, der zweite Einrichtungsleiter, sagt mit Blick auf den 7. Oktober: »Das Haus hier ist ein Brennglas.« Auch hier seien die Ereignisse eine »Riesenzäsur« gewesen. Manche hätten Kinder in der israelischen Armee, man sei besorgt wegen Antisemitismus. Über Sicherheitsmaßnahmen für das helle und in warmen Farben eingerichtete Haus möchte er öffentlich nicht sprechen.

»Für uns war das Jahr sehr schwierig«, ergänzt Huberman und spricht von Trauer, Lähmung und Retraumatisierung. Die meisten Beschäftigten seien nicht jüdisch, manche muslimisch. Auch ihre Gefühle müsse man im Blick haben, der Fokus liege gleichwohl auf dem Zusammenleben.

Was macht eine »jüdische Pflege« aus? Dazu gehört die Beachtung religiöser Belange mit koscherer Küche, dem Ruhetag Schabbat und gemeinsam begangenen Feiertagen. »Wer hier arbeitet, braucht eine Offenheit«, betont Wollbold. Hinzu kommt eine besondere Sensibilität für die Überlebenden. So seien für sie Bäder eingebaut worden, weil Duschen sehr dunkle Erinnerungen weckten. Vakuumiergeräte sollten unangenehme Gerüche vermeiden. Auch legten Überlebende Wert auf feste Bezugspersonen, um Vertrauen fassen zu können.

Gespräche rund ums israelische »Balagan«

An Menschen, die die Schoah nicht überlebt haben, erinnern einige ewige Lichter in der hauseigenen Synagoge. Mit Holzverkleidungen strahlt sie eine warme Atmosphäre aus. Gerade kommt Chaim Sharvit, Mentor für religiöse Belange, aus einem seelsorgerischen Gespräch. Besonders viel zu tun für ihn sei rund um Gedenktage und jetzt, wenn »Balagan«, also Chaos, in Israel herrsche, sagt Sharvit. Zum ersten Jahrestag des 7. Oktober sei eine Gedenkveranstaltung geplant - mit den Holocaust-Überlebenden und anderen aus dem »Paradies«, wie Maya Rizely-Ogly das Altenzentrum nennt.

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