»Man konnte wissen, wenn man wissen wollte. Man musste schon Anstrengungen unternehmen, um nichts zu wissen.« Bei einer Veranstaltung der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen unter dem Titel »Wider das Vergessen« antwortete der Historiker Wolfgang Benz, ehemaliger Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, auf die Frage, was Deutsche von der Judenverfolgung mitbekamen – und sagte: »Man musste ja mindestens rechtfertigen, hätte auch reflektieren können, warum man Hitler, auch wenn man kein Nazi war, gut fand.«
Der 73-jährige Benz ging auch auf seine eigene Familiengeschichte ein: Sein Vater habe es damals gut gefunden, dass Frankreich besiegt worden war und »Deutschland wieder Macht und Größe hatte«.
UNO Die Veranstaltung der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen in Kooperation mit der Deutsch-Israelischen Gesellschaft und der Friedrich-Ebert-Stiftung fand am Montag, dem Vorabend des 27. Januars, statt – jener Tag, den die Vereinten Nationen 2005 zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust ausriefen. Vor 70 Jahren hatten Angehörige der Roten Armee die Überlebenden des größten deutschen Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau befreit. Allein dort waren 1,1 Millionen Menschen ermordet worden.
»Die Ermordung der mehr als sechs Millionen Juden ist das furchtbarste Ereignis des letzten Jahrhunderts«, stellte Paul Pasch von der Friedrich-Ebert-Stiftung, fest. Es sei notwendig, ständig an die Gräuel der Naziherrschaft zu erinnern. Dabei gehe es auch immer wieder um die Frage nach den Mechanismen der Ausgrenzung einer Minderheit.
»Alle Anstrengungen, aus der Erfahrung des Holocaust zu lernen, wären vergeblich, wenn anstelle der Juden andere Gruppen stigmatisiert würden«, sagte Pasch mit Blick auf Benz. Der Historiker hatte in seinem Buch Die Feinde aus dem Morgenland. Wie die Angst vor den Muslimen unsere Demokratie gefährdet (2010) Vorurteile gegen Juden und Muslime verglichen und dabei Parallelen bei einer »Einteilung in Gut und Böse« sowie dem »Phänomen der Ausgrenzung« festgestellt.
Systeme In seinem Vortrag beleuchtete Benz den Umgang mit Selbstreflexion und das Eingeständnis von Schuld. Das NS-Regime habe es ermöglicht, »durch Wegschauen, durch Akklamation, durch Nichtstun Teil dieses Systems, dieses Regimes zu werden« – auch wenn sich Einzelne bei der Verfolgung der Juden zurückgehalten hätten.
Reinhard Schramm, Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde, berichtete von seiner frühen Kindheit in Weißenfels, das heute in Sachsen-Anhalt liegt. Einst hätten 165 Juden in Weißenfels gelebt: »1942 waren wir noch vier, die Familie Wolffsohn, meine Mutter und ich.«
Schramm erzählte auch von der Ausgrenzung der Juden im Luftschutzkeller: »Meine Mutter und ich durften dort nicht Zuflucht suchen im April 1945, als die Bomben auf Weißenfels fielen. Die Menschen wollten nicht mit einer Jüdin und ihrem Baby zusammensitzen.« Auch nach dem 27. Januar bis zum 8. Mai 1945 habe es viele jüdische Opfer gegeben: »Mitte Februar fuhren noch die letzten Transporte nach Theresienstadt. Dresden stand in Flammen, und trotzdem war die Reichsbahn Tag und Nacht bemüht, um die Transporte noch zu schaffen. Und sie schaffte das auch!«
Der Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde erinnerte an die sechs Millionen ermordeten Juden, aber auch an die Opfer aus der Sowjetunion. Russland habe im Zweiten Weltkrieg mit über 20 Millionen Toten den größten Preis an Menschenleben gezahlt.