Stuttgart

Masel Tov, Herr Tenné

Meinhard Tenné empfängt in seinem Wohnzimmer gern und häufig Gäste. Foto: Heinz Heiss

Wer von euch kennt einen Juden?» Wie oft er Schülern diese Frage schon gestellt hat, weiß Meinhard Mordechai Tenné nicht zu sagen. Die Antwort aber war immer die gleiche. Niemand. Aber die meisten wüssten, wie Juden sind – ganz anders als Christen in jedem Fall, so Tenné. «Kulturhypnose» nannte Sigmund Freud die Prägung, die ein Mensch in jungen Jahren durch Elternhaus, Schule und jeweilige kulturelle Umgebung erfährt. So wundert den Grandseigneur der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW) auch nicht, dass Schüler in Deutschland kaum Kontakt zu Juden haben.

«Unter 80 Millionen Einwohnern in Deutschland leben 110.000 bei Gemeinden eingetragene Juden, wie soll man dann einen Juden kennen, wenn man sie nicht einmal äußerlich erkennt.» Der Antisemitismus, so Tenné, sei eine Volkskrankheit. Man möge die Juden nirgendwo, das habe man bei der Beschneidungsdebatte gemerkt. «Jeder Mensch braucht offenbar einen Underdog, auf den er herabschauen kann. Auch wenn die meisten keinen Juden kennen, klingt in ihnen eine Saite an, die seit Jahrhunderten bespielt wird.»

Tennés Großeltern kamen aus Krenau/Oberschlesien nach Berlin. Sie sprachen Jiddisch, und sie waren fromm. «Mütterlicherseits habe ich sie noch erlebt, aber wie sie vor ihrer Ankunft in Deutschland lebten, habe ich nie gefragt. Später habe ich es bedauert, aber da war es zu spät», sagt der 1923 geborene Enkel. Nun ist er selbst dreifacher Großvater. «Der Älteste ist 23, er ist an unserer Familiengeschichte interessiert, der Mittlere ist 16 und hat andere Sorgen, und der Jüngste ist noch nicht mal drei», erzählt er stolz.

Verständigung Seinem Wunsch nach Verständigung der Menschen, gleich welcher Religion sie angehören, geht der Wahl-Stuttgarter gemeinsam mit seiner Ehefrau Inge Tenné auch in seinem gastfreundlichen Zuhause nach. Wer dort je an einem Sederabend oder einem der Chanukka-Feiertage teilgenommen hat, erlebte Tennés tiefe Gläubigkeit und zugleich eine wunderbare, seltene Toleranz. Wenn einer wie er, der als Kind Mutter und Schwester durch den Holocaust verlor, ausgerechnet in Deutschland zum «Brückenbauer» wurde, dann ist es ein Geschenk für jeden, der Meinhard Mordechai Tenné begegnet.

Er habe nach der Schoa in Israel gelebt, bis er im Auftrag der dortigen Regierung nach Deutschland kam. «Israel war ein armes Land, es brauchte Geld, ich sollte deutsche Touristen für Reisen dorthin interessieren», sagt der nun fast 90-Jährige.

Als Israeli ins Deutschland Adenauers zu kommen, war eine emotional schwierige Sache. «Alle wollten mir erklären, wie wenig braun sie während der Nazizeit waren», erinnert sich Tenné. Am 1. Januar 1966 wurde das Israelische Verkehrsbüro in Frankfurt/Main eröffnet. Ein Jahr zuvor hatten Israel und Deutschland diplomatische Beziehungen aufgenommen.

Normalität Tenné wurde Leiter des Büros. «Ich fand viele Unterstützer, Journalisten, Multiplikatoren, auch ehemalige Parteigänger», erzählt er. Gewünscht war ein gutes Klima zwischen den beiden Ländern, das Normalität ermöglichte. «Das ging nur über die Beseitigung emotionaler Hindernisse, und es gelang, bei mir und bei anderen.»

1970 kam er nach Stuttgart, trug sich wie zuvor in Frankfurt in die Gemeinde ein. Dass aus einem normalen Synagogengänger ein engagiertes IRGW-Mitglied wurde, verdankt Tenné vielleicht seinem Sohn Jan. Für ihn und alle anderen jüdischen Stuttgarter Schüler gab es keine Noten für das Fach jüdische Religion.

Mit wohlwollender Unterstützung von Schulleiter Volker Merz und Kultusminister Gerhard Mayer-Vorfelder entwarf Vater Tenné nach dem Vorbild der evangelischen und katholischen Lehrpläne eine Entsprechung für die jüdische Religion – er wurde politisch akzeptiert, und Tenné rückte «ins Licht der Öffentlichkeit», wie er lächelnd zugibt. Das Original des Lehrplans liegt noch in seinem Keller.

Er «schlitterte in die Repräsentanz der IRGW», war ein Jahrzehnt lang Sprecher der Gemeinde, setzte auf den Trialog der Religionen, gründete mit Gleichgesinnten den Verein «Haus Abraham» und die Stiftung «Stuttgarter Lehrhaus für interreligiösen Dialog». «Wir wollen ein friedliches, respektvolles Miteinander in der Bürgerschaft», sagt Tenné.

Unermüdlich bekennt er sich zu seinem Grundsatz: «Der Mensch ist gut, vom Gegenteil muss überzeugt werden.» Für diese Haltung, die Tennés Wirken auch gegen Widerstände aus den eigenen Reihen initiiert und trägt, erhielt er die Otto-Hirsch-Medaille, die Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg und das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse.

Hannah Arendt «Vorurteile, gegen wen auch immer, dürfen in einer Gesellschaft nicht so viel Raum einnehmen, man muss miteinander reden», sagt der Jubilar. Dass die IRGW inzwischen Teil der bürgerlichen Stuttgarter Gesellschaft wurde, daran seien all diejenigen in der Gemeinde beteiligt gewesen, die sich um eine Öffnung nach außen bemüht hätten. Und dass dem Land Baden-Württemberg, das ihm Heimat geworden ist, ein Ministerpräsident vorsteht, der Hannah Arendt zu seiner Herzensphilosophin gemacht habe, scheint Tennés Hoffnung auf ein respektvolles Miteinander zu bekräftigen.

Auch wenn er sich vor Jahren als Sprecher der IRGW zurückgezogen hat und die Alterszipperlein zugenommen haben, sein Engagement, etwa im Zentralrat der Juden, hat er nicht aufgegeben. Nach wie vor sitzt er der Integrationskommission vor, einer Initiative, die Zuwandererprojekte finanzieren hilft, denn Integration ist für Meinhard Tenné kein leeres Wort.

Frankfurt/Main

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