Die Schüler waren richtig interessiert», sagt Evelina Merová erfreut. Mehrere Stunden lang hatten die Schüler des Couven-Gymnasiums in Aachen drei Zeitzeugen interviewt, die Fredy Hirsch ihr Überleben verdanken: Evelina Merová, Hans Gaertner und Dita Kraus.
Sie waren eigens nach Aachen gereist, um an den zahlreichen Gedenkveranstaltungen anlässlich des 100. Geburtstages von Fredy Hirsch teilzunehmen. Ebenso waren Hirschs Nichte Rachel Masel und ihr Ehemann Ari, die ihren Onkel allerdings nie kennengelernt hatten, nach Aachen gekommen.
Alfred «Fredy» Hirsch wurde als Sohn eines Metzgers in Aachen geboren. Als Jugendlicher schloss er sich der jüdischen Pfadfinderbewegung an. Hirsch war Mitglied der Jüdischen Gemeinde Aachen und aktiv in der zionistischen Jugendbewegung.
1933 übernahm er eine leitende Funktion bei Makkabi, organisierte Sportfeste für Kinder und Jugendliche und leitete ab 1933 den Jüdischen Pfadfinderbund Deutschland in Düsseldorf. Nach der Machtübernahme der Nazis half Hirsch mit, so viele Kinder und Jugendliche wie möglich außer Landes zu bringen oder nach Palästina zu schicken. 1941 wurde er nach Theresienstadt deportiert, später nach Auschwitz-Birkenau. Er wurde nur 28 Jahre alt.
Mut Die Jüdische Gemeinde Aachen nahm Hirschs Geburtstag vor 100 Jahren zum Anlass, ihr ehemaliges Gemeindemitglied zu ehren. An der Gedenkveranstaltung nahmen mehr als 150 Beter, Interessierte, Schüler und Politiker teil, darunter Aachens Oberbürgermeister Marcel Philipp (CDU). «Ich bin sehr dankbar, dass wir in Aachen an einen bedeutenden Sohn unserer Stadt gemeinsam erinnern können», sagte Philipp. Für ihn sei Hirsch «ein großer Aachener». Denn er habe «in diesem Ozean der Brutalität für etwas Menschlichkeit gesorgt».
«Fredys Botschaft ist selbst in den Extremsituationen der Grausamkeiten von Theresienstadt und Auschwitz der beharrliche Aufruf, nicht mutlos zu werden, sich nicht aufzugeben, nicht in Lähmung und Resignation zu verharren, sondern aktiv zu sein», sagte der Oberbürgermeister. Noch «in der Hölle» habe Hirsch «den Kindern Lebensmut vermittelt».
Einen Tag später lud das Couven-Gymnasium zu zwei Begegnungen ein. Denn Fredy Hirsch war von 1926 bis 1931 Schüler der Oberrealschule Hindenburg, die seit 1945 den Namen Couven-Gymnasium trägt. So besuchte am Freitagnachmittag Sylvia Löhrmann (Bündnis 90/Die Grünen), Ministerin für Schule und Weiterbildung und stellvertretende Ministerpräsidentin des Landes Nordrhein-Westfalen, die Schule, um mit den Zeitzeugen und Schülern zu sprechen. Sie sei froh, dass sie hier sein dürfe, sagte sie. Sie würdigte das Engagement der Schüler und Lehrer als einen wichtigen Beitrag zu der von ihr initiierten «Kampagne zur Erinnerungskultur».
vorbild Am Abend dann wurde die Mensa feierlich in «Fredy Hirsch Forum» umbenannt. Vorbilder seien wichtig, so der langjährige Schulleiter Günther Sonnen. «Wir hatten an unserer Schule einen Menschen, der sich für junge Leute stark gemacht hat, bis zu seinem Tod im KZ.» Anschließend gab es ein langes Gespräch mit Zeitzeugen, Schülern, Eltern und Lehrern, zu dem auch mehrere Hundert Interessierte kamen.
«Er hat für die Kinder alles getan, was er konnte», sagt Evelina Merová, die bei Kriegsende 14 Jahre alt war. Die heute 85-Jährige war mit knapp zwölf Jahren nach Theresienstadt deportiert worden. Ihr Leben sei «von vielen Zufällen gelenkt» worden, sagt sie. Auch die Tatsache, dass sie in Theresienstadt in den Kinderblock unter Fredy Hirschs Obhut kam, sei so ein Zufall gewesen – ein lebensrettender Zufall.
Denn in Theresienstadt habe sich Hirsch dafür eingesetzt, einen Kinderblock einzurichten, ebenso später im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. «Er wollte uns das Leben leichter machen, und dadurch ging es uns besser», sagt Merová. 30 Mädchen drängten sich in Theresienstadt auf 25 Quadratmetern – doch Fredy Hirsch habe immer auf Sauberkeit geachtet. «Er selbst bewahrte sich Eleganz und hatte die Haare schön zurechtgemacht», erinnert sich Merová.
«Er war ein gut aussehender Mann, zugleich sportlich und streng. Disziplin war ihm immer wichtig. Auch die Sauberkeit des Geschirrs überprüfte er – jedes Kind musste ihm seinen Teller zeigen.» Der Aachener sorgte auch dafür, dass die Kinder zu den Appellen nicht nach draußen gehen mussten und eine bessere Suppe – die einzige Mahlzeit am Tag – bekamen.
sport Hans Gaertner kannte Fredy Hirsch noch vom Sportplatz in Prag, wohin Hirsch Anfang der 40er-Jahre gegangen war. «Er war ein guter Sportler und Madrich.» Später in den Lagern traf er Hirsch wieder. Er habe sich immer bemüht, «mit isolierten Menschen zu sprechen», sagt der 90-Jährige, der nach der Deportation in verschiedene Lager den Todesmarsch nach Theresienstadt überlebt hat. Dass er überhaupt überlebt hat, daran hatten Fredy Hirschs Zuspruch und Einsatz großen Anteil. Nach der Schoa studierte Gaertner Jura, lernte sechs Sprachen und arbeitete als Dolmetscher. Heute engagiert er sich in der Jüdischen Gemeinde Prag.
Dass Fredy Hirsch sich so für die Kinder eingesetzt hat, beeindruckte auch den Gymnasiasten Hicham Zaggoti. «Das weckte mein Interesse, ich wollte mehr erfahren», sagt der 15-Jährige, der sich als «nichtgläubigen Muslim» bezeichnet. Für ihn stand deshalb fest, sich an der Schul-AG «Fredy Hirsch» zu beteiligen.
Einmal pro Woche trafen sich etwa zwölf Schüler mehrere Monate lang, um zu recherchieren, Verwandte zu suchen und Beiträge für die Gedenkveranstaltung mitzuplanen. Die Schüler haben mittlerweile so viele neue Informationen gesammelt, dass sie auch künftig an dem Thema dranbleiben und weiter forschen wollen. Dabei waren die Lehrer ursprünglich erst durch einen Zufall auf Fredy Hirschs Schulbesuch an ihrem Gymnasium aufmerksam geworden – bei Recherchen für das Schuljubiläum.
initiatoren Etwa zeitgleich stießen die Initiatoren eines Gedenkbuchprojekts für die Aachener Opfer der Schoa auf den Namen Fredy Hirsch – dank Hinweisen von Überlebenden. Und noch ein weiterer Forscher interessierte sich parallel dazu für das Leben von Fredy Hirsch – der Journalist Dirk Kämper. Er veröffentlichte im September 2015 die Biografie Fredy Hirsch und die Kinder des Holocaust.
Auch Evelina Merová hält die Erinnerung an Fredy Hirsch wach. Sie besucht Deutschland regelmäßig – nicht nur, um ihren Sohn und dessen Familie zu besuchen, die in Frankfurt und Berlin leben. Die gebürtige Pragerin wird oft als Zeitzeugin eingeladen. «Ich erzähle das, was die Menschen, die nicht mehr da sind, nicht mehr erzählen können – so wie Fredy Hirsch.»