Die großen historischen Zusammenhänge zu kennen, das allein, sagt Hildegart Stellmacher, reiche nicht. »Damit es lebt, muss man die Geschichten erzählen«, sagt die 68-jährige Ingenieurin. Die protestantische Pfarrerstochter gehört zu jenen, die 1991 die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Dresden (CJ) gründeten.
Lücken in der Erinnerung füllen, Geschichte in der Gegenwart präsent halten und Begegnung ermöglichen – das betrachten die Mitglieder bis heute als ihre wichtigste Aufgabe. Vergangenheit wollen sie so detailliert wie möglich an einzelnen Orten in der Stadt darstellen.
Zionskirche Zum Beispiel beim alljährlichen »Weg der Erinnerung«. Seit 1992 treffen sich um den 9. November herum Menschen mit ihren Fahrrädern im Stadtzentrum, mehrere Hundert inzwischen. In diesem Jahr, am 10. November, sollen sie erfahren, wie Christen Mitglieder aus ihren Gemeinden vertrieben, die nach rassischen Kriterien von den Nazis als Juden identifiziert und verfolgt wurden. Vor der Ruine der evangelischen Zionskirche etwa werden die Teilnehmer hören, welchen Druck die »Deutschen Christen« auf die Gemeinde ausübten, den jüdischen Namen ihrer Kirche zu ändern.
Für die Vorbereitung des Weges forscht die katholische Religionslehrerin Franziska Mellentin auch gemeinsam mit ihren Gymnasiasten. Sie ist die katholische Vorsitzende der Gesellschaft. »Die Schüler müssen wissen, wie das begonnen hat«, betont sie. »Nicht irgendwo, sondern hier in der Stadt.«
Zeitzeugen Die Begegnung mit Zeitzeugen sei eine ihrer prägendsten Erfahrungen aus dem Engagement bei Aktion Sühnezeichen in der DDR seit 1969, erinnert sich Hildegart Stellmacher. Prager Juden wie Irma Lauscherova und deren Mann Jiri zuzuhören, wenn sie erzählen, wie sie das Lager in Theresienstadt überlebten, das blieb hängen. »Das waren Vermittler, von denen man lernen konnte.«
Die Vorgeschichte der Dresdner Gesellschaft beginnt zehn Jahre früher. Sieben Personen, unter ihnen ein katholischer und zwei evangelische Pfarrer, ein jüdischer Historiker und ein Musikwissenschaftler, kamen am 9. November 1981 in der Ökumenischen Arbeitsstelle der katholischen Kirche zusammen, um den »Arbeitskreis Begegnung mit dem Judentum« zu gründen.
Sieben Personen initiierten 1981 die Christlich-Jüdische Gesellschaft.
Sie alle waren auf Desinteresse und Ressentiments gestoßen, wenn sie in ihren Kirchen oder in den Schulen über die Verbrechen an den Juden zu sprechen versuchten. Dieses Schweigen wollten die Sieben durchbrechen, vor allem mit Informationen – möglichst von Juden selbst. Der evangelische Pfarrer Siegfried Reimann (1930–2014), damals einer der Initiatoren, hatte erkannt: »Antisemitismus lebt von mangelhafter oder Fehlinformation«.
Erinnerungstafel 1988 wurde an der evangelischen Kreuzkirche im Stadtzentrum eine Erinnerungstafel angebracht, die an das Unrecht an den Dresdner Juden und das Schweigen der Christen erinnert. Hier startet wie in jedem Jahr der »Weg der Erinnerung«.
2006, zur 800-Jahrfeier, begann die Gesellschaft zusammen mit weiteren Vereinen, »Denkzeichen« aufzustellen, die seither an verschiedenen Stellen an jüdische Geschichte erinnern: vor dem ehemaligen Polizeigefängnis, vor einem einstigen Kaufhaus, dessen Besitzer in Auschwitz ermordet wurden, einem Werk, das Zwangsarbeiter beschäftigte oder einem ehemaligen jüdischen Ferienheim.
Manchmal stoßen sie damit weitere Nachforschungen an. Wie bei einem Hinterhaus in der Dresdner Neustadt. Über die Geschichte der jüdischen Bewohner Louis und Henriette Schrimmer und über die der Israelitischen Religionsgemeinde, die es 1937 erwarb, informieren zusätzlich zum 2017 angebrachten Denkzeichen seit August dieses Jahres nun mehrere Tafeln. Passanten erfahren, dass sich hier im Mai 1945 die Jüdische Gemeinde neu konstituierte.
Friedhof Zu ihr hatten bereits die Mitglieder des Arbeitskreises in den 80ern Kontakt aufgenommen, wie sich Hildegart Stellmacher erinnert. »Vom Alten Jüdischen Friedhof in der Dresdner Neustadt haben wir den Müll weggeräumt, auf dem Neuen Friedhof im Stadtteil Johannstadt wuchernden Ahorn und Gestrüpp entfernt.« Ganze 61 Mitglieder gehörten der Jüdischen Gemeinde 1989 an. Anfang der 90er kamen Juden aus Russland und anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Sie bilden mittlerweile die Mehrheit der über 700 Gemeindemitglieder.
Elena Tanaeva gehört zu ihnen. 1958 in Leningrad geboren, kam sie 1998 nach Dresden. Seit 2005 ist sie Sozialarbeiterin der Jüdischen Gemeinde – und die jüdische Vorsitzende der CJ. Wichtig sei die CJ, weil sie die Gemeinde in der Stadtöffentlichkeit unterstütze. Beispielsweise bei politischen Demonstrationen wie zuletzt bei der Solidaritätskundgebung vor der Synagoge nach dem Terroranschlag in Halle an der Saale.
Die jüdische Vorsitzende der GCJZ Dresden ist eine Zuwanderin.
Sie informiert die CJ über die Situation der Gemeinde. »Ich weiß, wie sich die Gemeindemitglieder fühlen, wie sie ihre Zukunft sehen. Im Moment haben viele Angst.« Die russischsprachigen Zuwanderer bringen ganz eigene Erfahrungen von Antisemitismus aus ihrem Herkunftsland mit. »Bei ihnen sitzt der Schrecken tief. Manche sind traumatisiert. Deshalb nehmen sie solche Ereignisse anders wahr. Das vermittle ich in der Gesellschaft.«
Der evangelische Pfarrer Christoph Münchow, Jahrgang 1946, bis zu seinem Ruhestand 2011 Theologischer Dezernent im sächsischen Landeskirchenamt, Vorstandsmitglied der CJ, betrachtet deren Arbeit als beispielgebend für den Dialog der Religionen. Gemeinsam und voneinander könne man lernen, wie jahrhundertealte Traditionen und heilige Texte in die Gegenwart übersetzt werden können, wie das Überlieferte in der Gegenwart gelebt wird und wie die religiöse Überlieferung zu einem Kraftquell für die Gegenwart werden kann. Regelmäßig treffen sich in der Evangelischen Akademie Meißen jüdische und christliche Theologen und Laien, um gemeinsam in der Hebräischen Bibel zu lesen und über unterschiedliche Auslegungen zu diskutieren.
Gegenwart Bei aller Beschäftigung mit Theologie oder Geschichte habe die CJ die Gegenwart in der Stadt im Blick, betont Hildegart Stellmacher. »Es geht darum, für heute zu lernen, wo es Versäumnisse gab. Wo Falsches so gelehrt wurde, dass es zur Verfolgung von Menschen führte.«
Anschlag Nach dem rechtsradikalen Anschlag auf die Synagoge in Halle an Jom Kippur setzten wie auch in vielen anderen Städten in Dresden rund 2000 Menschen ein Zeichen der Solidarität mit ihren jüdischen Nachbarn. Vor dem wöchentlichen Schabbatgebet zwei Tage nach Jom Kippur versammelten sie sich an der Neuen Synagoge. Mehrere Teilnehmer der Kundgebung nahmen anschließend auch am Gottesdienst in der Synagoge teil, wo am Sonntagabend der Beginn des Laubhüttenfestes (Sukkot) gefeiert wurde.
Die Sukka, die Laubhütte, symbolisiere, wie verletzlich die jüdische Gemeinde sei, sagte der neue Rabbiner Akiva Weingarten. Dennoch sollten alle gerade in der jetzigen Situation an einer besseren Welt bauen. Schon ein wenig Licht könne die Dunkelheit vertreiben. »Ich stelle fest, dass es viele sind, die mit uns für Demokratie einstehen.« Die Sukka solle eine Laubhütte des Friedens sein, betonte der Rabbiner.
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