Auf den ersten Blick wirkt es paradox: Während der Großen Depression am Ende des 19. Jahrhunderts und während des Zweiten Weltkriegs gehörten Lippenstifte zu den am meisten verkauften Produkten. Daran hat sich bis heute nichts geändert. In Krisenzeiten verkaufen sich Lippenstifte nach wie vor sehr gut. Weshalb das so ist, beschreibt die Autorin Henriette Schroeder in ihrem neuen Buch Ein Hauch von Lippenstift für die Würde. Weiblichkeit in Zeichen großer Not.
Henriette Schroeder, die in München Kunstgeschichte, Amerikanische Kulturgeschichte und Psychologie studiert hat, danach Jewish Studies in Washington, arbeitete zwischen 1999 und 2002 bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) im Kosovo sowie in Bosnien und Herzegowina.
Krisengebiete Beruflich war sie darüber hinaus auch in vielen anderen Krisengebieten der Welt unterwegs und gelangte nach zahllosen Gesprächen mit dort lebenden Frauen zu einer für sie sehr unerwarteten Erkenntnis: »Sich schminken und etwas pflegen zu können, ist für Frauen, auch und vor allem in Zeiten größter Gefahr, von geradezu existenzieller Bedeutung.«
In ihrem im Münchner Sandmann-Verlag erschienenen Buch, das sie jüngst im Gemeindezentrum der IKG vorstellte, kommen 23 Frauen zu Wort, die Kriege, Erniedrigung, Belagerung und Inhaftierung – vom Gulag über KZ bis Umerziehungslager – überlebt haben. »Um die eigene Weiblichkeit zu bewahren, haben Frauen sogar von den spärlichen Lebensmittelrationen Margarine als Cremeersatz abgezweigt«, erklärte Henriette Schroeder.
Viele Frauen haben sich mit Kohle die Augenbrauen nachgezogen, wusste Schroeder zu berichten. »Und sie waren überglücklich, wenn ihnen ein Lippenstift, eine Creme oder ein Shampoo geschenkt wurde.« Die Schilderungen der Frauen, Ergebnis von sehr einfühlsam geführten Gesprächen durch die Autorin, beschreiben die große Sehnsucht nach Normalität und Ästhetik selbst in schlimmsten Zeiten.
anschaulich Den psychologischen Hintergrund, warum sich Frauen auch in extremen Situationen so verhalten, lieferte bei der Veranstaltung im Gemeindezentrum die Wiener Psychologin Elisabeth Jupiter, selbst Kind von Schoa-Überlebenden, in sehr anschaulicher Weise.
»Um dem Identitätsverlust in Extremsituationen entgegenzuarbeiten, ist das Festhalten an diesen Äußerlichkeiten ein Anker. Während des Krieges ist es sicher auch ein Zeichen des Überlebens, des Überlebenswillens, mehr oder weniger womöglich auch Trotz. Eine Trotzreaktion auf die Hässlichkeit des Krieges«, sagte Jupiter. Und natürlich, meinte die Psychologin, habe das auch etwas mit Würde zu tun, die in Krisenzeiten eine ganz besondere Bedeutung habe.
»Menschen im Krieg wird ja alles geraubt, was ihnen bis dahin Selbstachtung verlieh. Sie haben keine Familie mehr, kein Haus, kein Bad, nichts zu essen, nur noch das blanke Leben«, erklärte Jupiter. »Durch das Schminken können sie noch ein kleines Schlupfloch finden, in dem Würde oder Normalität existieren. Das eigene Selbstwertgefühl wiederzugewinnen, darum geht es.«
Kampfmittel Die Wiener Psychologin beantwortete auch die Frage nach der Bedeutung des Lippenstifts. »Rote Lippen«, so Jupiter, »gelten als Zeichen der Zuversicht, aber auch als Symbol der Lust und damit als Gegenteil von Tod und Bedrohung. Der Lippenstift sendet ein sinnliches Signal aus – und Sinnlichkeit ist Leben. Der Lippenstift ist deshalb auch ein Kampfmittel gewesen.«
Diese beeindruckende Haltung von Frauen war es, die bei Henriette Schroeder die Initialzündung auslöste, ein Buch darüber zu schreiben. »Die Schicksale der Frauen berührten mich. Ich wollte ihnen eine Stimme geben, und ich wollte das gängige Klischee, das Tabu hinterfragen, dass Äußerlichkeiten in solchen Situationen völlig unwichtig seien. Jede Frau erzählt eine ganz eigene Geschichte, eine ganz andere Geschichte, jede auf ihre besondere Art vom Verlangen nach Weiblichkeit in Zeiten großer Not.«
Einen Einblick in die tief sitzenden Zusammenhänge zwischen Aussehen und Würde gewährte auch IKG-Kulturchefin Ellen Presser, die die Moderation der Veranstaltung übernommen hatte und mit einem Beitrag über das Leben ihrer eigenen Familie auch Henriette Schroeders Buch bereichert.
Überlebenswillen Pressers Mutter Fela, die die deutsche Okkupation Polens mit falschen Papieren und als Dienstmädchen getarnt überstanden hatte, war nach dem Krieg zusammen mit ihrem Bruder in Hessen gelandet – nur mit ihren Kleidern am Leib und ihrem Überlebenswillen. »Für Fela«, schreibt Ellen Presser, »war ein Stück Seife mindestens so wichtig wie Nahrungsmittel.«
Wie stark ihre Mutter von den Erfahrungen der Schreckenszeit geprägt wurde, beschrieb Presser auf sehr bewegende Weise: »Wenn es meiner Mutter in späteren Jahren nicht gut ging – und dafür gab es regelmäßig Anlass: finanzielle Sorgen, ein verträumter Ehemann, Aufbegehren gegen ihre mütterliche Strenge und vor allem Anfälle von Melancholie, weil sie nie damit klarkam, überlebt zu haben, während vier ihrer Geschwister umgekommen waren –, dann half ihr ein Friseurbesuch. ›Der setzt mir einen neuen Kopf auf, wenigstens vorübergehend‹, meinte sie, ›und gibt mir Würde.‹«