Er ist eigens aus London angereist. »Ich bin ja ein Mitglied dieser Gemeinde«, sagt Leo Hepner mit stillem Stolz, »ein Mitglied der ersten Stunde.« Als Kind war der gebürtige Leipziger zwei Tage vor Kriegsbeginn mit seinen Eltern aus Leipzig nach London geflohen. Vor genau 20 Jahren war der heute 85-Jährige dann dabei, als die Liberale Jüdische Gemeinde Hannovers gegründet wurde. Als Präsident der Europäischen Union für progressives Judentum unterstützte er die Wiederbegründung liberaler Gemeinden in Deutschland wie kaum ein Zweiter. Und jetzt ist der alte Herr nach Hannover zurückgekehrt, um an der Jubiläumsfeier der größten liberalen jüdischen Gemeinde Deutschlands teilzunehmen.
»Mir hat damals gut gefallen, dass eine Gruppe energischer Damen sich anschickte, eine liberale Gemeinde zu gründen«, sagt Hepner mit kaum merklichem Lächeln. Tatsächlich ist die Geschichte dieser Gemeinde so etwas wie eine Erfolgsgeschichte: »Als wir damals anfingen, waren wir 79 Menschen«, erzählt Ingrid Wettberg, die Vorsitzende der Gemeinde. »Heute haben wir mehr als 800 Mitglieder aus 18 Nationen.«
Kirche Die engagierte Frau zählt auf: Zu dem Gemeindezentrum Etz Chaim, das seit 2009 in der früheren evangelischen Gustav-Adolf-Kirche im Stadtteil Leinhausen sein Domizil hat, gehören eine gut bestückte Bibliothek und ein Jugendzentrum. Es gibt einen russisch- und deutschsprachigen Sozial- und Migrationsdienst, und außerdem pflegt die Gemeinde mit Lesungen und Konzerten ein reges Kulturleben.
Die 2007 eröffnete Kindertagesstätte Tamar, »Die Palme«, war die erste Kita einer liberalen jüdischen Gemeinde in Deutschland überhaupt. Etwa 40 Kinder feiern Chanukka, sie essen koscher und bauen zu Sukkot tatsächlich Laubhütten. »Unsere Kita wird aber nicht nur von jüdischen, sondern auch von christlichen und muslimischen Kindern besucht«, sagt Wettberg. »Unsere Gemeinde ist ein Platz der Begegnung und des interreligiösen Dialogs.«
Die Weltoffenheit ist eine Säule im Selbstverständnis dieser Gemeinde: »Wir lehren und praktizieren ein modernes Judentum, das an die Tradition des aufgeklärten liberalen Judentums in Deutschland anknüpft«, heißt es auf der Homepage. Ein Satz wie ein Bekenntnis. Und: »Männer und Frauen sind in allen Aspekten des religiösen Lebens gleichgestellt.«
Zahlreiche Schulklassen und Jugendgruppen haben die Gemeinde in den vergangenen Jahren besucht. »Das jüdische Leben ist heute fester Bestandteil der hannoverschen Gesellschaft«, sagt Oberbürgermeister Stefan Schostok (SPD) beim Festakt zum 20-jährigen Bestehen. »So viele jüdische Mitbürger wie heute hatten wir noch nie.« Der Sozialdemokrat hört sich zufrieden an.
Verdienste Rund 500 Gäste sind zu dem Festakt in die Gemeinde gekommen; die Spitzen der Stadt sind hier versammelt. Weil die Synagoge nicht alle Besucher fasst, wird die Feierstunde live in den Veranstaltungssaal der Gemeinde übertragen. Niedersachsens Kultusministerin Frauke Heiligenstadt (SPD) lobt die Verdienste der Gemeinde: »Sie ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie aus einem kleinen Setzling ein großer Baum des Lebens geworden ist«, sagt sie.
Rabbiner Gabor Lengyel erinnert in einer furiosen Rede daran, dass Zuwanderer aus der früheren Sowjetunion die kleinen jüdischen Gemeinden vor gut zwei Jahrzehnten wiederbelebten: »Migranten haben die jüdische Gemeinschaft vorm Verschwinden bewahrt – und ganz Deutschland bereichert«, ruft der aus Ungarn stammende Rabbiner unter dem Applaus der Besucher. Ein Kommentar auch zur aktuellen Flüchtlingskrise. Vor 20 Jahren, als die Gemeinde sich in einem hannoverschen Hotel formierte, war Lengyel noch im Management in der Industrie tätig. Als Ruheständler studierte er dann, in Budapest und am Abraham Geiger Kolleg – und wurde schließlich Rabbiner in Hannover.
Viele ihrer Mitglieder waren damals aus der zahlenmäßig bis heute weit größeren, traditionellen Jüdischen Gemeinde in der hannoverschen Haeckelstraße ausgeschieden – unter anderem, weil sie auf mehr Rechte für Frauen im Gottesdienst pochten. »Wir Frauen saßen dort auf der Empore, und im Gottesdienst durften wir nicht aus der Tora lesen«, sagt Ingrid Wettberg. »Das passte nicht mehr in die Zeit.« Seither habe man umgesetzt, was man sich vorgenommen habe: »Ein modernes, zeitgemäßes Judentum zu leben, wie es vor der Schoa in Deutschland üblich war.«
Pluralismus Vor 20 Jahren kam es in der Stadt zu gewaltigen Spannungen zwischen den Gemeinden. »Heute leben wieder genügend Juden in Hannover, um das Judentum pluralistisch zu gestalten«, sagt Wettberg im Rückblick. Tatsächlich gibt es inzwischen neben der traditionellen und der liberalen Gemeinde auch noch eine bucharisch-sefardische Synagoge und ein Chabad-Zentrum in der Stadt.
Schuster findet diplomatische Worte, als er andeutungsweise über die alten Konflikte spricht: »Das Judentum braucht die Diskussion und die Auseinandersetzung«, sagt der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, die Vielfalt sei eine Bereicherung. Die Synagoge, die er zum ersten Mal besuchte, gefalle ihm »ausnehmend gut«, betont er.
Als Zentralratspräsident Schuster auf Judenfeindlichkeit zu sprechen kommt, wird es still im Saal. Am Tag dieser Feierstunde ist bekannt geworden, dass in Hannover der traditionsreiche jüdische Friedhof an der Stangriede mit einer Hakenkreuzschmiererei geschändet wurde. Heute, sagt Schuster, kämen viele Menschen neu nach Deutschland, die ein schlechtes Bild von Israel hätten: »Wir wollen unseren festen Platz in Deutschland behalten und unsere Interessen verteidigen.« Er bekommt an dieser Stelle lebhaften Applaus der Gemeinde, deren Mitglieder selbst zu etwa zwei Dritteln aus anderen Ländern zugewandert sind.
»Es gibt eine Renaissance jüdischen Lebens«, sagt Rabbiner Walter Homolka, der als Festredner nach Hannover gekommen ist, mit Blick auf die Leistungen der Zuwanderer. »Sie können stolz sein«, ruft der Rektor des Abraham Geiger Kollegs den liberalen Juden in Hannover zu: »Gottes Segen für das Werk eurer Hände«. Und mit einem Augenzwinkern bekennt er: »Dies ist ein Ort der Frauenpower – und doch komme ich gerne hierher.«