Doron Kiesel steht im Mittelpunkt des Geschehens. »Ich will mal kurz zusammenfassen«, sagt der Erfurter Pädagogik-Professor. Dann lässt er in aller Kürze die eben abgeschlossene Diskussion Revue passieren, fasst Thesen zusammen, spitzt sie zu. 15 Augenpaare sind auf ihn gerichtet, beobachten jede Geste, mit denen er seine Sätze unterstreicht. Grundsätzlich keine ungewohnte Situation für Kiesel, wenn man von der Zeit – später Sonntagnachmittag – und dem Ort der Veranstaltung – dem Frankfurter Philanthropin – absieht.
»Integration«, erklärt Kiesel, »ist weder eine deutsche noch eine jüdische Spezialität.« Ein Schmunzeln huscht über das Gesicht seiner Zuhörer und Mitdiskutanten. In einem Satz hat Kiesel die Quintessenz einer Diskussion zusammengefasst, die bereits seit einigen Jahren den innerjüdischen Diskurs in Deutschland bestimmt: Die Integration der jüdischen Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion und das Verhältnis der jüdischen Gemeinschaft zur Deutschen Mehrheitsgesellschaft. Einige Fragen stehen noch unbeantwortet im Raum, vermutlich, weil es keine einfachen Antworten gibt. Kann man sich als Jude in Deutschland auch als Deutscher fühlen? Wieso erreichen nicht alle jüdischen Zuwanderer die etablierten Gemeinden? Und wie soll man damit umgehen, dass sich das Judentum in Deutschland immer weiter ausdifferenziert, neue Strömungen, neue Gemeinden entstehen?
Stabilisierung Zumindest auf die letzte Frage hat Kiesel für sich eine klare Antwort gefunden: »Es ist keine Gefahr, wenn es in einer Stadt mehrere Gemeinden gibt, wenn neben einer allgemeinen auch eine orthodoxe Rabbinerkonferenz existiert. Das trägt eher zur Stabilisierung des Judentums bei.« Dann geht sein Blick zur Uhr. 18.15 Uhr. Die Zeit für seinen Vortrag unter dem Titel »Im gelobten Land?« ist abgelaufen. Die Teilnehmer gehen auseinander. In einer Viertelstunde beginnen schon die nächsten Vorträge.
In den 15 Minuten Pause herrscht im Treppenhaus des Philanthropin eine hektische Betriebsamkeit, wie sonst nur an einem Schultag. Unter der Woche beherbergt das Philanthropin die Lichtigfeldschule, die von rund 400 Kindern und Jugendlichen besucht wird. An diesem Sonntag allerdings sind es vornehmlich Erwachsene, die durch die Gänge des altehrwürdigen Gebäudes strömen. Die Intention aber ist die gleiche: Lernen und Lehren – Limmud auf Hebräisch.
Das Publikum, rund 400 Besucher, ist ähnlich bunt wie die Themenauswahl. Betont lässig gekleidete Säkulare sitzen neben Orthodoxen. Andere wiederum scheinen in ihrem Kleidungsstil beide Strömungen vereinen zu wollen. In den Gängen herrscht ein beinahe babylonisches Sprachenwirrwarr. Deutsch, Hebräisch, Englisch, Russisch – dazwischen immer wieder andere osteuropäische Sprachen. Und alle gemeinsam zieht es in die Unterrichtsräume. Ob zum Rabbiner Alexander Laschikin, der auf Russisch darüber doziert »Warum wir Juden sind und nicht Christen«, zu Schimon Staszewski, der über »Jüdische Bioethik« referiert. Andere wiederum lernen im Workshop »Chavruta heute«, den rabbinischen Lern- und Lehransatz kennen, der auf der gemeinsamen Textstudie und Diskussion basiert.
Neutralität Ein Ansatz, der sich auch über den Frankfurter Limmud-Tag zieht. »Die Idee ist, dass jeder der etwas weiß, anbietet, dieses Wissen weiterzugeben«, erklärt Noemi Staszewski vom Organisationsteam. Bereits seit 2008 veranstaltet Limmud-Deutschland einmal im Jahr ein mehrtägiges Festival am Werbellinsee. Die Limmud-Tage sollen dieses Konzept wieder zurück in die Gemeinden tragen. »Wir wollen diese Struktur des offenen Lernens möglichst breit anlegen«, sagt Staszewski.
»Die Entdeckung des jüdischen Universums« haben die Veranstalter als Titel gewählt. Tatsächlich bietet das Philanthropin an diesem Sonntag ein Abbild des jüdischen Lebens in Deutschland. Und ein Forum für verschiedene Zugänge zum modernen Judentum. »Das Tolle ist«, sagt Teilnehmer Daniel Kune, »dass hier alle Strömungen zusammenfinden und miteinander diskutieren.«
Ein Zusammentreffen, das abseits solcher Veranstaltungen zu selten stattfindet, glaubt Sophie Mahlo, die 2005 am Aufbau der Lernveranstaltung maßgeblich beteiligt war: »Limmud ist eine der wenigen Gelegenheiten, wo alle in ihrer Unterschiedlichkeit angesprochen werden und auch zusammenkommen.« Den Grund dafür, dass dieses Konzept von allen religiösen und politischen Strömungen angenommen wird, sieht sie in der strikten Unparteilichkeit ihrer Organisation. »Wir wollen die Leute nicht irgendwo hinbringen. Sie sollen einfach nur etwas lernen.«