Engagement

Leben für Demokratie

»Dass wir alle an einem Strang ziehen, ist ganz wichtig«, sagen Ilse Macek und Hans-Jochen Vogel. Foto: Miryam Gümbel

Am 3. Februar feierte Hans-Jochen Vogel seinen 85. Geburtstag. Der promovierte Jurist setzte Zeichen als Münchner Oberbürgermeister, als Regierender Bürgermeister von Berlin und als Bundesjustizminister. Bis 1994 war er für die SPD Mitglied des Deutschen Bundestages. Mit dem Rückzug aus diesem Amt war sein Engagement nicht beendet.

Bis heute ist Hans-Jochen Vogel unter anderem in dem 1993 von ihm mitbegründeten Verein »Gegen Vergessen – Für Demokratie« aktiv. Zu den bekanntesten Aktionen dieses Vereins gehört die jährliche Lesung der Namen der Münchner Schoa-Opfer am 9. November am Gedenkstein an der früheren Münchner Hauptsynagoge. Angeregt hatten die Errichtung dieses Gedenksteins der damalige Präsident der IKG, Siegfried Neuland sel. A., und Hans-Jochen Vogel seinerzeit als Münchner OB.

grundgesetz In seinem Münchner Zuhause sprach er über die Beweggründe für seinen wachsamen Blick auf jegliche Intoleranz. Das »Nie wieder« der Verbrechen der Naziherrschaft prägte sich ihm tief ein. »Hätte man uns 1945 gesagt, dass wir vier Jahre später ein Grundgesetz haben würden, dem eine klare Wertordnung zugrunde liegt, dass wir 25 Jahre später einen Bundeskanzler haben würden, der den Friedensnobelpreis erhält, dass schließlich Deutschland friedlich und ohne Blutvergießen wiedervereint sein werde – wir hätten ihn für verrückt erklärt«, beschreibt Hans-Jochen Vogel seine Dankbarkeit für die Entwicklung.

Dass diese aber nicht zum Nulltarif zu erhalten war und ist, das zeigt er anhand einiger Beispiele. Bereits der Münchner Oberbürgermeister Thomas Wimmer habe Schoa-Überlebende aus Israel zum Besuch in ihre alte Heimatstadt eingeladen. Vogel hat diese Tradition fortgesetzt. Das schlimmste Ereignis während seiner Münchner Amtszeit hatte auch mit Israelis zu tun: die Ermordung der Sportler während der Olympischen Spiele 1972. Vogel begleitete die Särge nach Israel. Zum ersten Mal im jüdischen Staat war Hans-Jochen Vogel mit einer Delegation des Deutschen Städtetages 1964.

Danach war er viele Male dort, so auch zum 90. Geburtstag des Jerusalemer Bürgermeisters Teddy Kollek, mit dem ihn ein freundschaftliches Verhältnis verband. Mit Schimon Peres ist er seit Ende der 60er-Jahre in Kontakt. Zu der Israelitischen Kultusgemeinde pflegt Vogel intensive Beziehungen. Das gilt für die früheren Gemeindepräsidenten Siegfried Neuland sel. A. und Hans Lamm sel. A. ebenso wie für Charlotte Knobloch, mit der er sich mehrmals im Jahr trifft.

Zu seinen eindrucksvollsten Erlebnissen zählt die Grundsteinlegung für das Gemeindezentrum – »ein Tag mit vielen Erinnerungen für mich«. Aufmerksam verfolgte Hans-Jochen Vogel auch von Bonn und Berlin aus das politische Geschehen. Die Anschläge von Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen führten 1993 zur Gründung des Vereins »Gegen Vergessen – Für Demokratie«.

Den Hintergrund hat der heutige Bundesvorsitzende des Vereins, Joachim Gauck, in seiner Laudatio auf Hans-Jochen Vogel zum 85. Geburtstag folgendermaßen formuliert: »Einmal sollte verhindert werden, dass mit dem allmählichen Dahingehen der Männer und Frauen, die das NS-Gewaltregime noch als Zeitzeugen erlebt haben – zumal als solche, die verfolgt wurden oder Widerstand leisteten, das Gedenken an dieses dunkle Kapitel unserer Geschichte abreißt.«

Gerichtsurteil Zu den Erfolgen, an denen der Verein mitgewirkt hat, gehört für Vogel die Entschädigung der Zwangsarbeiter oder der Einsatz für Euthanasie-Geschädigte und Opfer von Zwangssterilisationen. Auch die Annullierung der Gerichtsurteile gegen Deserteure habe mitgeholfen, dass diese im Nachhinein Gerechtigkeit erfahren konnten.

Heute ist der Verein »Gegen Vergessen – Für Demokratie« mit Hauptsitz in Berlin auf 2.000 Mitglieder angewachsen. Regionale Gruppen setzen örtliche Schwerpunkte. »Zu den aktiven Gruppen gehört München«, sagt Vogel. »Sie wurde lange Zeit von Anne-Barb Hertkorn geführt, unterstützt von weiteren Aktiven wie Helga König oder Margrit Grubmüller.«

Die genannte Namenslesung ist in München eine der wichtigen Veranstaltungen. Besonders hervorgehoben hat Vogel die Ausstellung zum Auschwitz-Prozess im Münchner Justizpalast – für den Juristen auch ein Zeichen dafür, dass sich die Justiz mit ihrer eigenen Geschichte auseinandersetzt.

Bei dieser Veranstaltung hat der Verein auch Kontakte mit der Gründungsdirektorin des Münchner NS-Dokumentationszentrums, Irmtrud Wojak, geknüpft. Synergien sind dem Gründer von »Gegen Vergessen – Für Demokratie« wichtig. So nennt er etwa den Simon-Snopkowsi-Preis, die Weiße-Rose-Stiftung oder die verstärkte Zusammenarbeit mit der Münchner Volkshochschule, seit Ilse Macek von dieser Einrichtung den Vorsitz der Regionalgruppe München übernommen hat.

Kooperation So werden die politisch-pädagogischen Aspekte und die Verbreitung der Arbeit in die Stadtteile hinein noch verstärkt. »Dass wir alle an einem Strang ziehen, ist ganz wichtig«, betonen sowohl Vogel wie Macek. Beide sind schon ein wenig stolz darauf, dass es nicht Konkurrenz sondern Kooperation gibt und »dass wir wissen, wofür wir stehen«.

Noch einmal kommt Vogel auf die Bedeutung zurück, die das Bewusstsein der Ursachen der Katastrophe der NS-Herrschaft auf die Gegenwart hat: »Die Erinnerung macht deutlich, dass ein ganz wesentlicher Faktor der Katastrophe war, dass es nicht mehr genug Männer und Frauen gab, die sich für Demokratie und Werteerhalt und die Weimarer Republik eingesetzt haben.«

Der Einsatz für Demokratie ist damit ein ebenso wichtiger Pfeiler des Vereins wie das Erinnern. Nur so könnten vermeidbare Fehler ausgeklammert werden. »Wir halten heute große Dinge für selbstverständlich, die es gar nicht sind«, sagte der große Mahner zum Abschluss: »Zum Beispiel 60 Jahre Frieden in Europa, die EU, das Wiedererstehen einer jüdischen Gemeinschaft in München.« Da sei es ganz wichtig, den nachwachsenden Generationen ihre Verantwortung für die Gestaltung der Zukunft deutlich zu machen.

Frankfurt/Main

»Mein Herz blutet«

In Israel herrsche »Balagan«, Chaos, sagt Chaim Sharvit. Er steht hier denen zur Seite, die zum ersten Jahrestag des 7. Oktober dunkle Gedanken haben. Ein Besuch in Deutschlands größtem jüdischen Altenheim in Frankfurt

von Leticia Witte  14.10.2024

Berlin

Wo werde ich hingehen?

Vivian Kanner ist Sängerin und Schauspielerin – und denkt darüber nach, Deutschland zu verlassen

von Matthias Messmer  13.10.2024

Gedenkveranstaltung

Steinmeier: Wer überlebt hat, trägt schwer an der Last

Fünf Jahre nach dem rechtsextremen Anschlag besucht Bundespräsident Steinmeier die Tatorte.

 09.10.2024

Frankfurt

Graumann und Grünbaum zur Doppelspitze in der Frankfurter Gemeinde gewählt

Den Vorstand vervollständigen Rachel Heuberger, Daniel Korn und Boris Milgram

von Christine Schmitt  09.10.2024

Berlin

»Ein bewegender Moment«

Am Donnerstag fand in Berlin die feierliche Ordination von zwei Rabbinerinnen sowie sechs Kantorinnen und Kantoren statt. Doch auch der monatelange Streit um die liberale Rabbinatsausbildung in Deutschland lag in der Luft

von Ralf Balke  09.09.2024 Aktualisiert

Neue Potsdamer Synagoge

Am Freitag wird der erste Gottesdienst gefeiert

Nach der feierlichen Eröffnung im Juli soll nun das religiöse Leben in der Synagoge in Potsdam langsam in Gang kommen. Am Wochenende sind erste Gottesdienste geplant

 06.09.2024

IKG

»Ein großer Zusammenhalt«

Yeshaya Brysgal zieht nach einem Jahr als Jugendleiter eine positive Bilanz und plant für die Zukunft

von Leo Grudenberg  04.09.2024

Keren Hayesod

»Das wärmt mir das Herz«

Der Gesandte Rafi Heumann über seinen Abschied von Berlin, deutsche Spielplätze und treue Spender

von Christine Schmitt  04.09.2024

Porträt der Woche

Sinn ernten

Caro Laila Nissen half nach dem 7. Oktober Bauern in Kibbuzim nahe Gaza

von Lorenz Hartwig  01.09.2024