Mit Chemnitz, dem einstigen »sächsischen Manchester«, verbinden sich Namen wie Karl Schmidt-Rottluff, Stephan Heym, Gabi Seyfert und Michael Ballack, Maler, Schriftsteller, Eiskunstläuferin und Fußballspieler. Trotz dieser künstlerischen und sportlichen Größen steht Chemnitz oft im Schatten von Dresden und Leipzig, kämpft mit Strukturwandel und Abwanderung. Konträr dazu haben osteuropäische Zuwanderer die Stadt für sich entdeckt, und viele von ihnen bilden heute das »Rückgrat« der hiesigen jüdischen Gemeinde.
Wegbereiter Siegmund Rotstein, einer der wenigen Chemnitzer Schoa-Überlebenden, hatte die Gemeinde durch die schwierigen Jahre der DDR hindurch gesteuert, doch litt sie in dieser Zeit kontinuierlich an Überalterung, Personalmangel und Mitgliederschwund. 1989 gehörten ihr noch ganze zwölf Frauen und Männer an, Gottesdienste wurden nur noch im benachbarten Dresden angeboten.
Nach der politischen Wende kamen ukrainische, russische und moldawische Juden und verhinderten den demografischen Kollaps. Heute zählt die Chemnitzer Gemeinde wieder mehr als 600 Mitglieder, und in dieser Woche feiert sie das zehnjährige Bestehen eines neuen Gemeindezentrums mit Synagoge.
Siegmund Rotstein leitete die Gemeinde bis 2006 und konnte miterleben, wie sich im neuen Domizil beachtliche Vielfalt entwickelte. Im multifunktionalen Beton-Glas-Oval nach Entwürfen des Frankfurter Architekten Alfred Jacoby herrscht an den Werktagen viel Betriebsamkeit – Vorträge, Lesungen, Sprachkurse, Tanz- und Chorproben, Maccabi-Sportveranstaltungen, Jugendseminare, aber auch soziale und medizinische Beratung.
Als besonders wichtig gilt in Chemnitz die Bildungsarbeit, denn, sagt die heutige Gemeindevorsitzende Ruth Röcher, »das sichert uns die langfristige Zukunft«. Röcher selbst ist Israelin und bietet seit 1994 in den Gemeinden von Chemnitz, Leipzig und Dresden Religionsunterricht für Kinder und Jugendliche an.
Improvisation Die ersten Jahre in Chemnitz waren für sie und andere Protagonisten nicht einfach. »Am Anfang haben wir die Challot für Schabbat von zu Hause mitgebracht, auch Sidurim und religiöse Literatur mussten erst einmal organisiert werden«, erinnert sich die Gemeindevorsitzende.
Alteingesessene und Neuzuwanderer bauten schließlich gemeinsam und Schritt für Schritt Vereine, Arbeitsgruppen und Projekte auf, die es heute mit jenen aus weit größeren Gemeinden gut aufnehmen können. Längst sind der ehrenamtliche Sozialdienst Bikur Cholim, die Beerdigungsbruderschaft Chewra Kadischa und der Frauenverein fest etablierte Einrichtungen.
Auch das religiöse Leben organisieren die Chemnitzer zum großen Teil selbst. Erfahrene Gabbaim gestalten die meisten Schabbat-Gottesdienste, bisweilen gastieren auch Kantoren-Studenten aus Berlin.
Rabbinersuche Sowohl von der Orthodoxen wie auch von der Allgemeinen Rabbinerkonferenz wurde Unterstützung bei der Suche nach einem eigenen Rabbiner signalisiert. »Bewerbungen liegen schon vor, doch bisher konnten wir uns noch nicht entscheiden. Wir machen uns da keinen unnötigen Zeitdruck«, sagt Röcher.
Sie weiß, dass eine Mehrheit der religiös interessierten Mitglieder einen orthodoxen Rabbiner favorisieren würde. Klar ist, dass der ideale Rabbinerkandidat auch einen guten Draht zu Kindern haben sollte. Die sind bereits auf ansprechende Angebote eingestimmt. 2009 eröffnete die Pädagogin Maria Lyamets eine stark frequentierte »Kinderstube Mischpacha«, die selbst bei Mädchen und Jungen mit anderem konfessionellen Hintergrund sehr gut ankam.
Einem ähnlichen Prinzip der Offenheit folgt die 2011 im Stadtteil Sonnenberg eröffnete jüdische Kindergartengruppe mit mittlerweile 17 Dauerbesuchern. Leiterin Annett Helbig setzt auf eine kreativ-spielerische Vermittlung der jüdischen Tradition. So feiern die Kleinen an den Freitagnachmittagen Schabbat und die jüdischen Feiertage gemeinsam. »Die Kids sind sehr aufgeschlossen, die Eltern neugierig, und die Zahl der Nachfragen nimmt stetig zu«, verrät Leiterin Helbig.
Künstler Einheimische Chemnitzer erleben die jüdische Gemeinde aber nicht nur als pädagogisch offen, sondern auch als kulturell anziehend. Hier stellen regelmäßig moderne Maler aus Israel, Russland und der Ukraine aus, tragen jiddische Künstler vor und brillieren zugezogene Berufsmusiker wie der Bostoner Klavier-Virtuose Jeffrey Goldberg und der bulgarische Violinist Kostantin Zahariev.
Zahariev, der im Gemeindevorstand auch die Kulturarbeit koordiniert, bekennt: »Durch Kunst und Ehrenamt habe ich in der Gemeinde etliche neue Freunde gewonnen.« Das Jubiläum in dieser Woche gestalten auch die Klezmerband »Yankele Kapelle«, der Chor »Schir Semer« und Musiker von der Chemnitzer Robert-Schumann-Philharmonie mit.
Einen Wermutstropfen haben die Feierlichkeiten dennoch zu verkraften: Chronische Schäden am Dach des modernen Gemeindezentrums sorgen immer wieder für unerbetene Feuchtigkeit. Die Gemeinde liegt im Rechtsstreit sowohl mit dem Architekten wie mit dem Bauträger – die Verantwortung für den Schaden wollte bisher noch keiner übernehmen.