Es war ein Ausdruck der hohen Wertschätzung, die Charlotte Knobloch nicht nur auf nationaler Ebene genießt. Zur ersten Gedenkstunde, die das Europäische Parlament aus Anlass des Holocaust-Gedenktags während einer Plenarsitzung beging, sprach die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern auf Einladung von Parlamentspräsident Antonio Tajani zu den Abgeordneten der 28 EU-Mitgliedstaaten.
Antisemitismus Das Problem des zunehmenden Antisemitismus, den Charlotte Knobloch schon seit einigen Jahren registriert, wird auch an der Spitze des EU-Parlaments wahrgenommen.
»Wir werden nicht vergessen. Wir wollen nicht vergessen. Wir bekräftigen unsere Verpflichtung, das Andenken lebendig zu halten und alle Formen von Hass, Diskriminerung und Antisemitismus kontinulierlich zu bekämpfen«, erklärte Tajani.
Umfrage Er sprach aber auch die erschreckenden Zahlen einer neuen Eurobarometer-Umfrage an, in der die Hälfte aller EU-Bürger von einem Antisemitismusproblem im eigenen Land ausgehe. »Dies ist ein Beweis dafür«, so der Parlamentspräsident, »dass das Virus des Antisemtismus nicht ausgerottet wurde.« Er zeigte sich aber zugleich überzeugt davon, dass »unsere Werte und unsere Geschichte stärker sind als Intoleranz und Gewalt«.
Knobloch wies auf die unvermeidlich
bevorstehende Zeit ohne Zeitzeugen hin.
Diese Hoffnung trägt auch Charlotte Knobloch in sich, wie sie in ihrer Rede in unterschiedlichen Zusammenhängen betonte. Sie wies aber auch auf die unvermeidlich bevorstehende Zeit ohne Zeitzeugen des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen hin. »Manchen«, warnte sie, »verleitet dieser Umstand zu dem Fehlschluss, die Erinnerung an den Holocaust und das Gedenken an seine Opfer seien heute überhaupt unnötig.«
Schoa Nach Überzeugung von Charlotte Knobloch, die durch die Schoa einen großen Teil ihrer Familie verlor und ihr eigenes Überleben nur glücklichen Umständen verdankt, könne nichts falscher sein als diese Geschichtsvergessenheit.
»Dessen ungeachtet«, betonte die bekannte Repräsentantin der Juden in Deutschland vor dem EU-Parlament, »erleben wir, wie überall in Europa politische Bewegungen an Kraft gewinnen, die sich dezidiert gegen Gedenken und gegen die Erinnerung stellen. Was sie propagieren, ist eine Gegenwart ohne Vergangenheit als Sprungbrett in eine Zukunft ohne Erinnerung.« Überraschend könne es deshalb nicht sein, wenn Antisemitismus wieder auflebe.
Eine Woche zuvor hatte IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch bei der Holocaust-Gedenkstunde im Bayerischen Landtag die AfD für ihre Verfassungsfeindlichkeit und Verharmlosung des Holocaust kritisiert – und einen »Shitstorm« aus dem rechten politischen Lager ausgelöst. »Hass erreichte mich im Minutentakt, per Telefon, Mail und Brief«, schilderte sie das Ausmaß der persönlichen Anfeindungen noch Tage später.
Charlotte Knoblochs Analyse der aktuellen antisemitischen Entwicklungen fällt vor dem EU-Parlament ernüchternd aus: »Überall erhebt der Judenhass heute wieder sein hässliches Haupt – in allen gesellschaftlichen Schichten und in allen Bereichen des politischen Spektrums, von der politischen Rechten über die radikale Linke bis tief hinein in die Mitte, außerdem in vielen muslimischen Mi-lieus.«
Demokratie Glücklicherweise gebe es den Worten der IKG-Präsidentin zufolge überall in Europa aber auch Menschen, die sich für die Erinnerung und für Demokratie und Offenheit einsetzen.
Diese Stimmen seien laut und zahlreich, in allen Ländern der Europäischen Union. Mit einem Blick in die Geschichtsbücher erinnerte sie aber auch daran, wie schwer es die Mehrheit haben könne, ihre Ideale gegen eine renitente Minderheit zu verteidigen.
»Wie schnell sich Antisemitismus ausbreiten kann, ist an der derzeitigen europäischen Politik ablesbar.«Charlotte Knobloch
Ein konsequentes Handeln bei der Bekämpfung des Antisemitismus, das auch EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani gefordert hatte, ist nach Überzeugung von Charlotte Knobloch von existenzieller Bedeutung für eine freiheitlich-demokratische Staatsform.
»Wie schnell sich Antisemitismus ausbreiten kann, wenn ihm nicht rechtzeitig Grenzen gesetzt werden, ist an der derzeitigen europäischen Politik ablesbar«, sagte sie in ihrer Rede vor dem EU-Parlament in Brüssel.
Jeremy Corbyn Sie ging dabei auf die britische Labour-Partei und ihrem Vorsitzenden Jeremy Corbyn ein, denen sie Antisemitismus vorwarf. »Sie haben sich in den vergangenen Jahren zu einem der eklatantesten Problemfälle Europas im Hinblick auf politischen Antisemitismus entwickelt«, erklärte Charlotte Knobloch in deutlicher Form.
Corbyn hatte vor einem halben Jahr öffentlich einräumen müssen, dass seine Oppositionspartei tatsächlich ein Antisemitismusproblem habe.
Disziplinarverfahren gegen antisemitische Parteimitglieder seien zu langsam und zu zaghaft betrieben worden, räumte er ein. Gegen einige Mitglieder wird von der Polizei derzeit wegen »antisemitischer Hassverbrechen« ermittelt.
Wahlen Angesichts der anstehenden Neuwahlen des EU-Parlaments und des um sich greifenden Judenhasses richtete Charlotte Knobloch am Ende ihrer Rede den Appell an alle Parlamentarier, sich Antisemitismus entschieden und konsequent entgegenzustellen: »Die Freiheit und die Demokratie, die wir heute genießen«, erklärte sie, »sind immer nur so stark wie der Einsatz der Demokraten für sie – und die Bereitschaft der Mehrheit, sie gegen eine energische, hasserfüllte Minderheit zu verteidigen.«