Nationalität

Keine Stimme

Der Großteil der Gemeindemitglieder stammt aus der Ukraine oder Russland. Die Bedingungen für den deutschen Pass erfüllen viele nicht. Foto: Ira Prohorova

Elena Gaft blickt mit Sorge auf die sächsischen Landtagswahlen: Am Wochenende könnte die AfD zur stärksten Kraft im Freistaat werden. Sollte die rechtsextreme Partei an einer Regierung beteiligt werden, wäre das »eine Katastrophe und Schande für Sachsen«, sagt Gaft. Die Rentnerin kam 1999 aus Russland nach Deutschland und lebt seit 24 Jahren in Chemnitz. Hier engagiert sie sich in der jüdischen Gemeinde, hier geht sie auf Demonstrationen, wenn ihr ein gesellschaftliches Anliegen wichtig ist.

Wählen kann Gaft aber nicht, denn ihr fehlt die deutsche Staatsbürgerschaft. Wenn die Sächsinnen und Sachsen am 1. September darüber entscheiden, wer sie künftig regieren soll, hat sie kein Mitspracherecht.

So wie der 67-Jährigen geht es vielen jüdischen Zuwanderern aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Gaft schätzt, dass in Chemnitz die meisten Gemeindemitglieder keinen deutschen Pass haben. Hört man sich in anderen Städten um, ergibt sich ein ähnliches Bild: Unter den Jüdinnen und Juden, die aus Ländern wie Russland, Belarus oder der Ukraine stammen und die heute etwa 90 Prozent der Gemeindemitglieder ausmachen, ist eine Mehrheit offenbar nie eingebürgert worden.

Zwar fehlen genaue Zahlen, dennoch lässt sich mit einiger Gewissheit sagen: Ein großer Teil der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland ist hierzulande vom wichtigsten demokratischen Prozess ausgeschlossen. Ihre Stimme zählt bei Wahlen buchstäblich nicht. Wie kann das sein?

In der Sowjetunion grassierte der Antisemitismus

Nach dem Ende des Kalten Krieges kamen etwa 200.000 Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. In ihren Heimatländern vollzogen sich große politische und ökonomische Verwerfungen, der Antisemitismus grassierte. Als sogenannte Kontingentflüchtlinge, die ihren Verfolgtenstatus nicht individuell nachweisen mussten, fanden sie Aufnahme in der Bundesrepublik. In dieser Zeit wuchsen die jüdischen Gemeinden von 30.000 auf mehr als 100.000 Mitglieder an.

Politiker bezeichnen die jüdischen Zuwanderer gerne als »Geschenk« für Deutschland.

Angesichts dieser Stärkung des Judentums in dem Land, von dem die Schoa ausgegangen war, sprechen Politikerinnen und Politiker gerne von einem »Geschenk« für Deutschland. Eine Rhetorik, die jedoch im Kontrast zu den konkreten Lebensbedingungen der jüdischen Zuwanderer steht. Die Biografie von Elena Gaft steht auch hier beispielhaft für die vieler anderer Kontingentflüchtlinge.

Als sie mit 42 Jahren ihre Heimatstadt Sankt Petersburg verließ, hatte Gaft schon seit 20 Jahren als Lehrerin und Logopädin gearbeitet. Nebenberuflich hatte sie Kurse an der Pädagogischen Universität gegeben. All das war in Deutschland bedeutungslos: Weder wurden Gafts Abschlüsse anerkannt, noch ihre bisherigen Arbeitsjahre auf ihren Rentenanspruch angerechnet. »Natürlich war ich damals sehr sauer«, erzählt sie heute. »Ich war am Boden zerstört.« Gaft lernte Deutsch und arbeitete in Vollzeit. Doch aufgrund der fehlenden Qualifikation fand sie nur Niedriglohnjobs auf dem zweiten Arbeitsmarkt. Als sie vor zwei Jahren in Rente ging, reichten die Bezüge nicht zum Leben. Gaft bekommt nun Grundsicherung.

Nach Zahlen der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST), dem Dachverband der jüdischen Wohlfahrtspflege, wurden in 78 Prozent aller Fälle die Abschlüsse jüdischer Kontingentflüchtlinge in Deutschland nicht anerkannt. Die Folgen sind gravierend: Mehr als 90 Prozent der Zugewanderten, die heute im Rentenalter sind, beziehen die staatliche Grundsicherung und sind damit armutsgefährdet.

Zwar gibt es seit Anfang 2023 einen Härtefallfonds, aus dem Betroffene eine Einmalzahlung in Höhe von bis zu 5000 Euro erhalten können, doch für die ZWST ist das nicht genug. Der Betrag sei »weder wertschätzend noch geeignet, die Renten- und Armutsdebatte der Zuwanderergeneration dauerhaft zu lösen«, erklärte der ZWST-Präsident Abraham Lehrer vergangenes Jahr.

Die älteren Zuwanderer leben meist von Sozialhilfe

Auf die ökonomische Randständigkeit der jüdischen Zuwanderer folgte der politische Ausschluss: Deutsche Staatsbürger können in der Regel nämlich nur diejenigen werden, die ihren Lebensunterhalt selbst sichern können. Auf der Internetseite des Bundesinnenministeriums wird ausgeführt: »Sie müssen zum Beispiel Lebensmittel, Kleidung und eine Unterkunft für sich und Ihre unterhaltsberechtigten Familienangehörigen von Ihrem Einkommen bezahlen können.« Dass die älteren Kontingentflüchtlinge zu einem großen Teil von Sozialhilfe leben, disqualifiziert sie also bis heute für den deutschen Pass. Selbst Jahrzehnte nach ihrer Einwanderung durften viele von ihnen noch nie bei einer landes- oder bundesweiten Wahl abstimmen.

Karen Körber forscht über die jüdische Migration nach Deutschland. Im Gespräch mit dieser Zeitung nennt sie zusätzliche Gründe für die oft nicht erfolgte Einbürgerung der Kontingentflüchtlinge. »Wer in höherem Alter in ein neues Land kommt, bewegt sich häufig vor allem in der eigenen Sprachgemeinschaft«, sagt die Soziologin, die am Institut für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg den Bereich der jüdischen Gegenwartsforschung leitet. Nicht alle jüdischen Zuwanderer würden daher Deutsch auf dem Niveau B1 beherrschen, was ebenfalls Voraussetzung für die Staatsbürgerschaft ist.

Der jüngeren Generation steht der Zugang zur deutschen Staatsbürgerschaft in aller Regel offen.

Zudem sei ein weiterer Aspekt relevant: »Für die erste Generation der Zuwanderer war die Frage der deutschen Staatsbürgerschaft von untergeordneter Bedeutung«, sagt Körber. »Wichtiger war es ihnen, im Land gut anzukommen und den eigenen Kindern die bestmögliche Bildung zu verschaffen.« Das Selbstverständnis als politisches Subjekt in der neuen Heimat war häufig nicht besonders stark ausgeprägt, sagt die Wissenschaftlerin. Zudem war der biografische Schock über die fehlende Anerkennung der beruflichen Abschlüsse und der bisherigen Lebensleistung für viele Betroffene besonders einschneidend. »Die Erlangung eines deutschen Passes trat darüber in den Hintergrund«, so Körber.

Ganz anders verhalte es sich dagegen in der Generation derjenigen, die als Kinder nach Deutschland kamen oder bereits hier geboren wurden. Ihnen stehe der Zugang zur deutschen Staatsbürgerschaft in aller Regel offen. »Sie verstehen sich zudem stärker als Bürger dieses Landes und wollen sich politisch einbringen«, sagt Körber.

Die Verbundenheit zur Heimat ist stark

Oleg Shevchenko steht beispielhaft für diese generationale Zäsur. Als er acht Jahre alt war, zog er mit seinen Eltern von der ukrainischen Krim ins thüringische Mühlhausen. Heute, 20 Jahre später, ist er dort Kreis- und Stadtratsmitglied für die SPD und engagiert sich im Wahlkampf seiner Partei. Den weiteren Aufstieg der AfD in Thüringen will er unbedingt verhindern.

Auch Shevchenko schätzt, dass unter den älteren Mitgliedern der jüdischen Gemeinden ein großer Teil nur einen ukrainischen oder russischen Pass hat. Das habe aber nicht immer nur bürokratische Gründe, glaubt er. Selbst wenn diese aus dem Weg geräumt sind, so Shevchenko, bedeute die Entscheidung für den deutschen Pass für viele auch eine emotionale Überwindung. Die Ukraine beispielsweise erlaube keine doppelte Staatsbürgerschaft. Doch die alte Nationalzugehörigkeit abzulegen, ist für viele Juden, die dort aufgewachsen sind und auch heute noch eng mit ihrer Heimat verbunden sind, schwer vorstellbar.

Auch für russische Juden galt lange, dass sie bei der Einbürgerung ihren alten Pass hätten abgeben müssen. Vor jedem Besuch bei der Familie in der alten Heimat wäre dann ein Termin beim russischen Konsulat nötig gewesen, erzählt Shevchenko. »Für viele hätte das geheißen: Ich brauche ein Visum, um nach Hause zu kommen.«

Trotzdem gebe es immer wieder Kontingentflüchtlinge, die sich auch 20 Jahre nach ihrer Migration um die deutsche Staatsbürgerschaft bewerben: »Das bedeutet, sich endgültig für das neue Leben zu entscheiden«, sagt Shevchenko. Seine eigenen Eltern hatten bisher aber nicht die Möglichkeit, eine solche Entscheidung für sich zu treffen: Die deutsche Staatsbürgerschaft ist ihnen verwehrt, weil auch sie auf staatliche Mittel angewiesen sind. Am Wochenende werden sie daher weder die Partei, in der ihr Sohn engagiert ist, noch irgendeine andere wählen können.

Die Kontingentflüchtlinge gelten nicht als »Volksdeutsche«

Dass es bei entsprechendem politischen Willen auch anders laufen kann, zeigt der Umgang mit den sogenannten Spätaussiedlern, deren Vorfahren im 18. und 19. Jahrhundert aus deutschen Gebieten ins damalige russische Zarenreich migrierten. Auch sie kamen wie die jüdischen Zuwanderer ab den 90ern aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland, gelten im Gegensatz zu jenen jedoch als »Volksdeutsche«. Das bringt Vorteile mit sich: So werden ihre Arbeitsjahre im Ausland auf ihre Rente in Deutschland angerechnet, und der Zugang zur deutschen Staatsbürgerschaft ist für sie stark vereinfacht.

Der Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) und Gründer des Tikvah Instituts, Volker Beck, setzt sich seit Jahren für die rechtliche Gleichstellung der jüdischen Kontingentflüchtlinge mit den Spätaussiedlern ein. Das wichtigste Argument des ehemaligen Grünen-Bundestagsabgeordneten: Auch die Vorfahren der jüdischen Kontingentflüchtlinge stammen ursprünglich aus deutschem Gebiet, das sie »Aschkenas« nannten und aus dem sie ab dem 14. Jahrhundert vertrieben wurden. Becks Schlussfolgerung: »Eine Zugehörigkeit zum aschkenasischen Judentum muss wie eine Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis behandelt werden.«

Der Umgang mit den Spätaussiedlern zeigt, dass es auch anders geht.

Doch bei den politischen Entscheidungsträgern fehle das Bewusstsein für diese historischen Zusammenhänge, beklagt Beck im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen. »Man hätte die Kontingentflüchtlinge von Anfang an als Deutsche aufnehmen müssen«, sagt er. Die Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft wäre dann eine reine Formsache gewesen. Zu spät sei es dafür laut Beck noch nicht: »Man könnte diese Jüdinnen und Juden mit einem Federstrich zu Deutschen machen.«

Doppelte Staatsbürgerschaft mittlerweile möglich

Zuständig für eine solche Entscheidung wäre in erster Linie das Bundesinnenministerium. In Reaktion auf eine Anfrage dieser Zeitung verwies das von Nancy Faeser (SPD) geführte Haus jedoch lediglich auf die in diesem Jahr erfolgte Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts. Weitere Anpassungen seien nicht geplant, erklärte eine Sprecherin des Ministeriums. Die Reform bedeutet für die jüdischen Zuwanderer zumindest eine kleine Verbesserung: Die doppelte Staatsbürgerschaft ist jetzt grundsätzlich möglich.

Für Elena Gaft war es bislang ein Problem, dass sie ihren russischen Pass bei einer Einbürgerung hätte abgeben müssen: Da sie seit Russlands Annexion der ukrainischen Krim aus Ablehnung der Politik Putins ihr Heimatland nicht mehr besucht, hätte sie auch nicht vor Ort die Aufgabe ihrer russischen Nationalität beantragen können.

Diese Hürde besteht nun nicht mehr, und Gaft will ihr Glück versuchen: Sie hat die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt. »Ich habe Integrationskurse besucht und den Einbürgerungstest bereits bestanden«, erzählt sie. Ihre Hoffnung ist, dass sie bei den Behörden ihr soziales Engagement geltend machen kann. Formal erfüllt sie die Voraussetzungen für eine deutsche Staatsbürgerschaft jedoch nach wie vor nicht. »Vielleicht klappt es ja trotzdem«, sagt Gaft. Doch das, schiebt sie nach, liege nicht in ihrer Hand.

(Mitarbeit Mascha Malburg und Christine Schmitt)

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