Frankfurt

Karolinas Amulett

War es Absicht? Ließ Karolina ihr Amulett ganz bewusst auf den Boden fallen, als ein Zeichen, damit es später gefunden würde und bezeugen könnte, dass sie gelebt, dass es sie, ein 13-, 14-jähriges Mädchen aus Frankfurt, jemals gegeben hat? Einige ihrer Angehörigen sind davon überzeugt, dass es sich so zugetragen hat. Diese Vorstellung hilft ihnen, der totalen Sinnlosigkeit des Mordes an sechs Millionen Juden etwas entgegenzusetzen. Der kleine, dreieckige Anhänger aus Silber stellt eine Verbindung zu den Menschen her, die in der Anonymität des Massenmordes verschwunden sind und für die es kein Grab gibt, an dem man ihrer gedenken kann.

Und vor allem ist es diesem Amulett zu verdanken, dass sie, die heute in Kanada, den USA, Japan, Hongkong, England und Israel leben, als Familie zusammengefunden haben – 76 Jahre nach der Deportation von Karolina und ihrer Familie am 12. November 1941.

Sobibor Im Herbst 2016 war das Amulett bei Ausgrabungsarbeiten auf dem Gelände des ehemaligen Vernichtungslagers Sobibor entdeckt worden. Die beiden Archäologen Yoram Haimi (Israel) und Wojciech Mazurek (Polen) versuchen seit mehreren Jahren, Aufbau und Anlage des Lagers, in dem 250.000 Menschen ermordet wurden, zu rekonstruieren. Haimi hat an dieser Arbeit mehr als ein rein wissenschaftliches Interesse. »Mehrere meiner Onkel wurden hier ermordet«, erzählt er.

Seinen und Mazureks Ausgrabungen ist es zu verdanken, dass mittlerweile die verschiedenen Gaskammern genau lokalisiert werden konnten, wie auch der Verlauf der sogenannten Himmelfahrtsstraße, des Weges also, den die Gefangenen zu den Stätten der Vernichtung zurücklegen mussten. Die Ausgrabungen, so erläutert Haimi, dienten vor allem der Sicherung der vorhandenen Relikte, bevor auf dem Areal die Bauarbeiten zur Errichtung einer Gedenkstätte mit Besucherzentrum und Parkplatz begannen.

Fundstücke Insgesamt konnten die Archäologen rund 70.000 Fundstücke archivieren, darunter das silberne Amulett, das Karolina Cohn zugeordnet wird. Es wurde dort gefunden, wo sich nach den Erkenntnissen der Archäologen früher eine Baracke befand, in der den inhaftierten Frauen die Haare abrasiert wurden. Eingraviert ist in den Anhänger allerdings lediglich ein Geburtsdatum, der 3. Juli 1929, sowie als Ortsangabe Frankfurt am Main und auf Hebräisch der Glückwunsch »Mazal tow!«.

Viele jüdische Familien in Frankfurt haben damals zur Geburt ihrer Tochter einen solchen Anhänger von der Gemeinde geschenkt bekommen – vermutlich auch Anne Frank, die nur wenige Wochen vor Karolina zur Welt kam. Laut Geburtenregister wurde unter dem Datum des 3. Juli 1929 nur ein jüdisches Mädchen eingetragen: Karolina Cohn, Tochter von Richard und Else Cohn, geborene Eisemann, wohnhaft in der Thomasiusstraße 10.

Über die Familie Cohn ist nur sehr wenig bekannt. Richard Cohn, geboren 1884, war Tapezierer von Beruf, doch infolge eines Lungendurchschusses während des Ersten Weltkriegs war er arbeitsunfähig. Da er nur eine geringe Invalidenrente bezog, versuchte er, die Familie mit dem Erlös aus einem kleinen Bücher- und Zeitschriftenhandel durchzubringen. Vermutlich hat Karolina – und vielleicht später auch ihre kleine Schwester Gitta – das Philanthropin, die jüdische Schule Frankfurts, besucht. Es existiert ein Foto ihrer Jahrgangsklasse, doch niemand kann mehr sagen, ob sie sich unter den darauf abgebildeten Kindern befindet.

Gesicherte Daten Das nächste gesicherte Datum ist der Tag, an dem die Familie Cohn den Befehl zur »Abwanderung« erhielt: der 8. November 1941. Es war der neunte Geburtstag der kleinen Gitta. Wie so viele Frankfurter Juden mussten sich auch die Cohns zu Fuß auf den Weg zur Großmarkthalle machen, in deren Keller sie bis zur Deportation in das Ghetto im weißrussischen Minsk interniert wurden.

Die Fahrt mit dem Zug DA 53 der Deutschen Reichsbahn dauerte sechs Tage, es gab Lebensmittel, aber kein Wasser. Die Menschen hielten ihre Finger in den Regen, um die aufgefangenen Tropfen davon ablecken zu können. Viele waren bereits tot, bevor der Zug in Minsk eintraf.

Weitere Fragen zur Deportation bleiben offen: Wurden die Familienmitglieder voneinander getrennt, und wenn ja, wann und wo? Musste Karolina ihr Amulett vielleicht gegen ein Stück Brot eintauschen? Ist sie selbst in Sobibor ermordet worden
oder vielleicht diejenige Person, die das Schmuckstück zuletzt besaß? Niemand kennt die Antwort. Karolinas Schicksal wirkt wie der dunkle Zwilling zu dem von Anne Frank. Beide sind sie fast am selben Tag in Frankfurt geboren. Und während die eine durch ihr Tagebuch zu einer der berühmtesten Personen der Weltgeschichte wurde, ist das Schicksal der anderen bis auf diese wenigen dürren Daten unbekannt.

Vergessen »Hat sie nicht dieselbe Aufmerksamkeit wie Anne Frank verdient?«, fragt Greg Schneider, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Claims Conference, der eigens aus New York nach Frankfurt gekommen war, um an der Verlegung der Stolpersteine vor dem Wohnhaus der Familie Cohn teilzunehmen. »Vielleicht wird irgendwann die ›roadmap‹ ihres Lebens entdeckt«, hofft er. »Wir dürfen Karolina nicht vergessen, denn wenn wir das tun, kann wieder geschehen, was man ihr damals angetan hat.«

Nach dem Fund des Amuletts wurde zunächst in der von der Claims Conference geförderten Datenbank von Yad Vashem und in Deportationslisten nach Informationen gefahndet, wem dieses Schmuckstück gehört haben könnte. Erste Hinweise auf Karolina Cohn tauchten auf. Die Geburtsurkunde des Frankfurter Standesamts bestätigte schließlich diese Vermutung. Außerdem erschienen sowohl in der israelischen Zeitung »Haaretz« als auch in der »New York Times« Aufrufe an eventuell noch lebende Angehörige der Familie Cohn, sich zu melden.

Kontakte Diese Artikel las auch der israelische Genealoge Chaim Motzen. »Das hat mich aus der Bahn geworfen«, erzählt er. Sofort begann er mit seiner aufwendigen Recherche und fand tatsächlich, über den ganzen Erdball verstreut, mehr als 60 Verwandte des Frankfurter Mädchens, die er alle kontaktierte.

Mitte November stehen nun 34 Angehörige von Karolina Cohn vor dem Haus Thomasiusstraße 10 im Frankfurter Stadtteil Nordend, umgeben von Kameras, Scheinwerfern und Mikrofonen. Die kleine Seitenstraße ist von der Polizei abgesperrt worden, Hunderte Menschen verfolgen schweigend, wie der Künstler Gunter Demnig vor dem Haus, in dem Karolina aufwuchs, vier Stolpersteine verlegt, für Karolina, ihre drei Jahre jüngere Schwester Gitta und ihre Eltern Else und Richard Cohn.

»Mit diesem Stein entreißen wir Karolina Cohn der Anonymität der 1,5 Millionen ermordeten Kinder und geben ihr ein Gesicht, eine Adresse, ihre Persönlichkeit zurück«, sagt Rüdiger Mahlo, Repräsentant der Claims Conference in Deutschland, die die Verlegung der Stolpersteine veranlasst hatte. Auch Oberbürgermeister Peter Feldmann ist da. »Gedenken braucht Platz und Orte und bekommt diese auch in unserer Stadt, die Karolinas Heimat war und die sie so grausam verstoßen hat«, sagt er.

Projektarbeit Ein Ort in Frankfurt, an dem die Erinnerung an Karolina Cohn bewahrt wird, ist die Anne-Frank-Schule. Deren neunte Klasse setzt sich zurzeit in einer Projektarbeit intensiv mit der Biografie des Mädchens auseinander. Unterstützt werden die Schüler darin von der Bildungsstätte Anne Frank. »Was sie hierbei erfahren, werden die Jugendlichen bestimmt niemals vergessen. Dieser sehr persönliche Zugang zur Geschichte, die Auseinandersetzung mit dem Schicksal einer etwa Gleichaltrigen ist wertvoller als alle öffentliche Gedenkkultur«, findet Manfred Levy vom Pädagogischen Zentrum Frankfurt, einer Schnittstelle zwischen Jüdischem Museum und Fritz-Bauer-Institut.

Am Tag der Steinlegung hatten die Neuntklässler die einmalige Gelegenheit, mit den Angehörigen von Karolina Cohn zu sprechen. Die weit verzweigten Verwandtschaftsbeziehungen zu klären, ist nicht leicht, es wimmelt nur so von Großcousins und -cousinen ersten, zweiten und dritten Grades.

Ernest Bruckman, Jahrgang 1934 und Karolinas Vetter, redet den Schülern ins Gewissen: »Ich habe von meinem vierten bis elften Lebensjahr in der Illegalität gelebt. Meine Familie war in Italien untergetaucht und hielt sich dort im Untergrund bis zur Befreiung 1945 versteckt. Deshalb konnte ich in dieser Zeit keine Schule besuchen und musste später alles nachholen. Seid dankbar, dass ihr zur Schule gehen und etwas lernen dürft!«

verwandte Viele von Karolinas Verwandten treffen sich in Frankfurt zum ersten Mal. Manche, wie zum Beispiel Chris Nelson aus New York, wussten nicht einmal, dass sie jüdische Wurzeln haben, bis sie den Anruf von Chaim Motzen erhielten. Chris’ Großmutter war eine Cousine von Karolina.

Ob und wie diese Nachricht ihr Leben verändert habe, will ein Schüler wissen. »Für mich hat sich ein Fenster zur Vergangenheit geöffnet«, antwortet Chris. »Ich habe sofort in einer Truhe voller alter Bilder und Briefe zu stöbern begonnen, um mehr über meine Familie zu erfahren. Ich bin dankbar für diese Erkenntnis und spüre die Macht einer Verbindung, die über Generationen hinwegreicht. Darin zeigt sich für mich die geheime Kraft des Amuletts.«

Frankfurt/Main

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