Erinnern ist für mich so wie Wasserholen am Brunnen. Ich werfe den Eimer hinunter, lasse so viel vom Seil nach, bis ich spüre, wie sich der Eimer mit Wasser füllt, und ziehe ihn dann langsam wieder hoch. Ganz selten ist das Wasser so klar, dass ich bis zum Boden des Eimers sehen kann, und doch überrascht es mich immer wieder, was ich dort alles entdecke. (Valentin Senger, Kaiserhofstraße 12)
Im Minutentakt rollen Autos aus der Garagenausfahrt Kaiserhofstraße 12. Wie ein Fremdkörper reckt sich das graue Parkhaus in die Höhe, schmucklos, eingekesselt von renovierten Altbauten, in denen Kanzleien und Büros untergebracht sind. Im Erdgeschoss des grauen Kubus schlürfen einige Geschäftsleute ihren Feierabendcocktail. Stünde auch hier noch ein Altbau, könnte der Eigentümer Mieten verlangen, die weit über dem Frankfurter Durchschnitt liegen würden. Zwischen Alter Oper und Hauptwache gelegen, gehört die Kaiserhofstraße heute zu den besten Lagen der Stadt.
Veränderungen Vor rund 70 Jahren war das noch anders: Die Straße war geprägt von kleinen Läden, Handwerksbetrieben und Hinterhäusern, in die meist weniger begüterte Einwohner Frankfurts zogen. Daran erinnert heute nur noch wenig. Und nichts verrät, dass sich an der Stelle, an der sich heute das Parkhaus erhebt, zwischen 1933 und 1945 eine der unglaublichsten Geschichten der Schoa zutrug: die des Überlebens der jüdischen Familie Senger.
Was der älteste Sohn der Familie, Valentin Senger, in seinem Buch Kaiserhofstraße 12 festgehalten hat, klingt zu fantastisch, um wahr zu sein. Zwölf Jahre lang überstand die russischstämmige Familie Senger, die eigentlich Rabisanowitsch hieß, die Schrecken des Naziterrors, dank geschickter Verschleierungen der Mutter, der Verschwiegenheit der Nachbarn und einiger schier unglaublicher Zufälle.
Den Anfang machte Polizeimeister Kaspar, der die Einwohnermeldekarte der Familie fälschte und aus den staatenlosen Familie »mosaischen« Glaubens, russischstämmige »Dissidenten« machte. Hinzu kam das unglaubliche Glück, dass die kommunistischen Untergrundaktivitäten der Eltern von der Gestapo unentdeckt blieben. Und schließlich war da noch das Zusammentreffen Valentin Sengers mit einem Arzt, der obwohl er der Reiter-SA angehörte, die Familie nicht verriet.
»Am Tage des Erscheinens der Kaiserhofstraße 12 im Jahre 1978 las ich das Buch die ganze Nacht hindurch – wie in Trance«, erinnert sich der Historiker Arno Lustiger, anlässlich des offiziellen Starts der Aktion »Frankfurt liest ein Buch« am 21. April. »Am nächsten Morgen hatte ich den dringenden Wunsch, den Autor kennenzulernen, um ihn als Lügner und Angeber zu entlarven.« Stattdessen wurde Lustiger zu einem guten Freund Sengers, den er bis zu seinem Tod 1997 begleiten sollte.
Aufmerksamkeit 1978 trat Valentin Senger mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit. Einige Jahre lang fanden er und sein Buch eine gewisse mediale Beachtung. 1980 wurden seine Erinnerungen sogar vom Hessischen Rundfunk verfilmt. Doch seit dem Tod des Autors war es relativ ruhig geworden um sein Werk, dass bis vor Kurzem nur noch antiquarisch erhältlich war, ehe Verleger Klaus Schöffling eine Neuauflage veranlasste und die Aktion »Frankfurt liest ein Buch« anstieß.
Fast eineinhalb Jahrzehnte nach seinem Tod genießt Senger in seiner Heimatstadt eine nie geahnte Popularität. Drei Wochen lang (noch bis zum 9. Mai) wird in mehr als 200 Veranstaltungen aus Sengers Buch gelesen. Eine späte Ehrung. Denn auch nach 1945 tat sich Deutschland schwer mit Senger, dem staatenlosen Juden, der sich in der aus der Illegalität wiederaufgetauchten KPD engagierte und als Journalist für die Sozialistische Volkszeitung arbeitete.
nicht genehm »Wenn man davon absieht, dass er nicht homosexuell war, hatte er alle Eigenschaften, die in Deutschland nicht beliebt waren«, sagt Heiner Halberstadt, langjähriger Weggefährte. Vor allem die Verweigerung der deutschen Staatsbürgerschaft blieb für den 1918 in Frankfurt geborenen Senger »ein Lebensthema«, erinnert sich Halberstadt. Zumal die Bundesrepublik auch Sengers Töchtern Ionka und Judith die Einbürgerung verweigerte. Ein Vater wie Valentin Senger, so hieß es in den Ablehnungsschreiben, könne nicht dafür garantieren, dass seine Kinder im Geiste der freiheitlichen demokratischen Grundordnung erzogen würden.
»Das ist ein Kapitel, das zu selten zur Sprache kommt«, glaubt Halberstadt. »Das gereicht auch der Stadt nicht gerade zu Ehren.« Erst 1981, 36 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, erhielt Senger, der sich in der Zwischenzeit vom Kommunismus losgesagt hatte und als Redakteur für den Hessischen Rundfunk arbeitete, die deutsche Staatsbürgerschaft.
Gleichgültig »Unser Problem war auch, dass jahrzehntelang niemand etwas von dem wissen wollte, was wir erlebt und wie wir überlebt hatten«, erklärt Arno Lustiger. »Das Buch ist ein Zeugnis, dass man auch in düsterer Zeit, Gutes tun kann«, glaubt Dieter Graumann, Vizepräsident im Zentralrat der Juden in Deutschland und Kulturdezernent der Frankfurter Gemeinde. In einer Zeit, in der die Generation der Schoa-Überlebenden allmählich aussterbe, komme Sengers Geschichte Kaiserhofstraße 12 eine besondere Bedeutung als Mahnung für Mut und Zivilcourage zu. Doch am Ende, so Graumann, stünde auch eine beklemmende Frage: »Wie viel Gutes hätte man bewirken können, wenn es mehr Mutige gegeben hätte?«