München

»Juwel unserer Gemeinde«

Wenn es einen Menschen gab, der alles über unsere Gemeinde wusste, über Jüdischkeit, über das Gute und die Abgründe des Menschen, dann war es Ruth Steinführer, sichrona livracha.

Es fällt mir schwer, über sie in der Vergangenheit zu sprechen. Sie war immer so präsent. Wenn sie den Raum betrat, machte sich Fröhlichkeit breit. Ihr Strahlen, ihre Energie ließen sie ungeachtet ihrer Körpergröße riesenhaft erscheinen. Sie war eine so besondere, eine einzigartige Persönlichkeit – ein Juwel unserer Gemeinschaft, ein Glücksfall für diese Welt, in der wir leben.

Sie war die Mutter unserer Gemeinde. Sie sah unzählige Kinder aufwachsen, sah, wie unsere Gemeinde wuchs und sich wandelte. Sie hatte erlebt, wie über die Jahrzehnte aus Verzweiflung Mut, aus Mut Stärke, aus Stärke Hoffnung und aus Hoffnung schließlich wieder Lebensmut und Zuversicht wurden.

flucht Wie ihre Gemeinde, so war Ruth Steinführer selbst voller Mut, Kraft, Hoffnung und Lebensfreude – auch wenn ihr das Leben nicht immer Anlass dazu gab. Ruth war das jüngste von drei Geschwistern. Ihr Vater, Jurist und Vizedirektor eines Mühlenkonzerns, war Deutscher; ihre Mutter Österreicherin. Noch bevor die Nazis an die Macht kamen, zog die Familie nach Wien. 1938 organisierte die Mutter die Flucht der Kinder nach Prag. Ruth war 13 Jahre, als sie von ihren Eltern für immer getrennt wurde.

Ruth und ihr Bruder überlebten die Schoa, ihre Eltern und ihre Schwester wurden ermordet. Ruth kam nach Palästina, lebte in einem Kibbuz, pflanzte Tabak, ging zur Schule, wurde Krankenschwester, arbeitete bei einem Chirurgen und schließlich in der Psychiatrie. Sie traf ihren ersten Ehemann, Hans Siegfried, mit dem sie zwei Kinder bekam und im Jahr 1952 nach Deutschland, nach Berlin, zurückkehrte. Weshalb? »Weil ich’s wollte« – eine Antwort, die so typisch ist für unsere Ruth Steinführer, sichrona livracha.

Was sie nicht wollte, war, ihre Geschichte zu erzählen – nur ganz selten, nur nach unbedingter Aufforderung, kam sie dem Wunsch nach. Sie wollte, wie sie sagte, »mit ihren seelischen Dramen niemanden belasten«. Sie wollte nur »ganz normal leben«. Und weiter sagte sie: »Das ganze Unglück erzählen, das kann ich nicht.«

Ruth Steinführer sel. A. verkörperte jenes Judentum, das nach 1945 in der Reichenbachstraße eine neue alte Heimat fand. Sie war mit den guten Zeiten ebenso vertraut wie mit den schlechten. Sie verstand es, realistisch und pragmatisch zu sein und zugleich an Visionen und Wunder zu glauben. Das ist es, was ich von ihr unter anderem gelernt habe.

Loyalität Sie kannte jedes einzelne Gemeindemitglied. Sie wusste um jedes Gerücht und um jede Wahrheit – und sie wusste diese zu unterscheiden. Ruth war der Inbegriff von Loyalität und Verlässlichkeit, von Menschlichkeit und Fürsorglichkeit. Sie war vielleicht die stärkste und couragierteste Persönlichkeit, die ich kenne. Ausgestattet und gewappnet mit einem Schutzschild aus Humor und Unverwüstlichkeit. Und so dachte ich immer, solange es unsere Gemeinde gibt, solange gibt es auch unsere Ruth Steinführer.

Aber natürlich wusste ich, dass dies nur ein Wunsch war. Irgendwann kommt er doch, der Tag, den wir nicht wahrhaben wollen. So lehrt uns der Talmud: »Für alles gibt es die richtige Stunde, eine Zeit, geboren zu werden, eine Zeit, zu gehen.« Für Ruth Steinführer, sichrona livracha, war diese Zeit nun gekommen. Und damit für uns die Stunde des Abschieds.

Ruth Steinführer sel. A. hätte mit ihren Erinnerungen und Anekdoten ganze Bücherregale füllen können. Aber gleichsam ließen sich dicke Wälzer über Ruth und die Erlebnisse und Gespräche mit ihr schreiben. So geht mit Ruth Steinführer sel. A. ein Stück Geschichte dieser Gemeinde, eine Epoche zu Ende – und bleibt doch unvergessen.

Denn ein Mensch, der so intensiv gelebt hat wie Ruth Steinführer sel. A., der auf so besondere Weise geliebt wurde, der geht niemals ganz. Ruth Steinführer bleibt in unseren Herzen und Köpfen unsterblich. Ebenso wie die Geschichte, die sie erlebt und mitgestaltet hat.

Menschlichkeit Ruth Steinführer, sichrona livracha, hat ihr Leben in den Dienst ihrer, unserer Gemeinde gestellt: als Gemeindesekretärin, Leiterin des Sozialreferats – eigentlich gibt es keine Bezeichnung für das, was sie geleistet hat. Sie war voll und ganz, zu jeder Zeit, für unsere Gemeinde tätig. Sie arbeitete jeden Tag von morgens um acht, sechs oder sogar sieben Tage die Woche, sie arbeitete für drei. Und sie war unersetzlich –wegen ihrer Erfahrung ebenso wie wegen ihrer Präsenz, ihrer Menschlichkeit, ihrer Würde, ihrer inneren Größe.

Meinem Vorgänger Hans Lamm sel. A. war sie in besonderer Weise verbunden, und mir war sie von Anfang an die wichtigste Stütze – als Mitarbeiterin, aber vor allem als Mensch. Über die Jahre hat sie im Rahmen ihrer Tätigkeit für die Kultusgemeinde unzählige Menschen getroffen und für unsere Interessen und Belange geworben.

Noch mehr Menschen hat sie unterstützt und ihnen geholfen – ohne Wenn und Aber, immer und überall, wo sie gebraucht wurde. So war sie nicht nur ein wandelndes Geschichtsbuch und Lexikon. Sie war auch eine Seelsorgerin – im wahren Sinne. Sie hatte für jede Lebens- und Gemütslage einen Ratschlag parat, der auf Lebenserfahrung und Menschenkenntnis basierte, wie es sie kein zweites Mal gibt. Gleichzeitig war sie niemals um einen guten Spruch verlegen, der scheinbar Leichtigkeit vermittelte, auch wenn sich in Wahrheit Tiefgründigkeit und eine kritische Beobachtung unserer Zeit dahinter verbargen.

Ruth Steinführer war so schlagfertig und klug, dass sie mit ihrer Ironie und Zungenfertigkeit alle in ihren Bann ziehen konnte. Zugleich war sie so unvergleichlich liebevoll, wenn sie wollte. Wen Ruth Steinführer einmal in ihr großes Herz geschlossen hatte, den umarmte sie voll und ganz – mit allem, was sie hatte.

Botschafterin Ruth Steinführer sel. A. war auch als Übersetzerin und Dolmetscherin tätig. Sie sprach Deutsch, Englisch, Hebräisch, Französisch, Arabisch und Tschechisch – das konnte man bei der United Nations Relief Organisation in München gut gebrauchen. Doch transportierte sie nicht nur Sprache, Wörter und Sätze – sie transportierte eine Lebenssicht, Lebensweisheiten. Sie war eine Übersetzerin, eine Botschafterin für die jüdische Gemeinschaft, speziell für unsere Gemeinde, unsere Gefühle, unsere Sehnsüchte und Bedürfnisse.

Jahrzehntelang hat sie Holocaust-Opfer betreut. Menschen mit furchtbarsten Traumata und Ängsten – sie war für sie da. Sie war ihre Rettung, ihr Halt im Leben – und im Tod. Wenn Menschen starben, die aufgrund ihrer Biografie eben nicht jene Papiere zurückließen, die die deutschen Behörden sehen möchten, konnte Ruth Steinführer – und nur sie – den zuständigen Beamten auf ihre unnachahmliche Art erklären, warum es manchmal solche Papiere einfach nicht gibt.

Das sind, das waren so die Geschichten, die Ruth Steinführer sel. A. erzählen konnte. Sie berichtete auch über den Schrecken, der durch unsere Gemeinschaft ging, als uns in den 70er-Jahren der Terror erreichte. Nur durch eine glückliche Fügung überlebte sie den Anschlag auf das jüdische Altenheim in der Reichenbachstraße am 13. Februar 1970. Sie rief damals die Feuerwehr und half den völlig verängstigten und verzweifelten Menschen, die den Flammen entkamen. Wie an diesem Tag, so war Ruth Steinführer an jedem Tag ihres Lebens Retterin und Helferin, auf unterschiedlichste Art und Weise – immer so, wie es ihr Gegenüber gerade brauchte.

Liebe Trauergemeinde, ich möchte an dieser Stelle den Angehörigen von Ruth Steinführer unseren Rückhalt als Gemeinde versichern. Sie sind nicht allein. Wir sind für Sie da, wann immer Sie uns brauchen. Sie haben einen geliebten Menschen verloren. Die Welt hat einen großartigen Menschen verloren – eine Lichtgestalt, deren Leuchten wir alle bewahren müssen. Das sind wir Ruth schuldig.

Glauben Sie war eine historische Figur. Menschen wie sie gibt es nicht mehr. Die Epoche, für die sie stand – mit all ihrem Denken und Handeln, ihrem Wissen und ihrem Glauben –, diese Zeit ist vorbei. Ich kann den Heutigen nur einen Rat geben: Nehmt euch ein Beispiel an Menschen wie Ruth Steinführer, sichrona livracha.

Als die Gemeinde an den Jakobsplatz zog, blieb Ruth Steinführer sel. A. in ihrem Büro in der Reichenbachstraße. Sie wehrte sich gegen jede Veränderung. Bis zuletzt hatte sie dort ein Büro – wie aus einer anderen Zeit. Sie hielt die Stellung. Sie bewahrte die Erinnerung an ihre Gemeinde, an ihre Epoche, ihre Jüdischkeit.

Lassen Sie uns gemeinsam das Andenken an Ruth Steinführer und an ihre Zeit und ihre Ziele bewahren. Liebe Ruth, du wirst unserer Gemeinde unendlich fehlen. Du wirst dieser Welt unendlich fehlen. Du fehlst uns!

Möge deine Seele eingebunden sein in das Bündel des ewigen Lebens.

Frankfurt/Main

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