Marburg

Interreligiöse Torafreude

Genau 15 Buchstaben der Marburger Tora fehlen noch: Mit Gänsefeder, Tinte und großer Sorgfalt schreiben Rabbiner, Oberbürgermeister, Gemeindemitglieder und Freunde die letzten Worte auf das Pergament. »Vor den Augen von ganz Israel« steht dort auf Hebräisch. Genaugenommen berühren sie nur die Hand des eigens angereisten Sofers (Toraschreibers) Josef Chranovski. Schließlich darf sich keiner verschreiben – sonst ist die Schriftrolle nicht koscher. So will es die Tradition.

Nicht der Tradition entspricht Ehrengast Bilal El-Zayat, der Vorsitzende der islamischen Gemeinde in Marburg. Auch er schreibt an der Vollendung der Tora mit. Es ist wohl sehr selten, dass ein Muslim an dieser Zeremonie mitwirkt. Bilal El-Zayat ist sich der großen Ehre bewusst, die ihm damit zuteil wird.

Oberarzt »Schalom Alechem«, grüßt er seine Freunde von der jüdischen Gemeinde, »Mazel Tov« wünscht er ihnen. Er hofft, dass dies ein Vorbild für die Welt sei: »Gerade in der Zeit, in der die Scharfmacher immer mehr Zulauf bekommen und laut werden, ist es umso wichtiger, dass man ausgleichende Töne findet und zeigt, was uns alle verbindet«, sagt der Oberarzt, der die hohen Feste der jüdischen Gemeinde regelmäßig besucht.

Es ist auch nicht selbstverständlich, dass Christen an der Tora mitschreiben. Doch in Marburg sind nicht nur die Rabbiner Avremi Nussbaum, Beni Pollak und Josef Chranovski sowie Mitglieder der jüdischen Gemeinde und des Fördervereins dabei. Auch der scheidende Oberbürgermeister Egon Vaupel und sein Nachfolger Thomas Spies, der evangelische Propst Helmut Wöllenstein und der katholische Dechant Franz Langstein nehmen an der Zeremonie teil.

Toleranz »Marburg lebt den Frieden«, sagt Amnon Orbach, der 85 Jahre alte Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde: »Ich habe das Gefühl, dass für Fremdenhass und Antisemitismus in dieser Stadt kein Raum ist.« Freundschaften zwischen allen Religionen werden gepflegt. Am »Runden Tisch der Religionen« werden Probleme ausgeräumt. Orbach unterstützt die Muslime beim Bau ihrer neuen Moschee: »Wir tun alles, um Fremde zu verstehen und zu integrieren«, sagt der Israeli.

Kaum ist die Tinte der letzten Buchstaben trocken, reckt Vorstandsmitglied Thorsten Schmermund den wertvollen Besitz in die Höhe. Die Tora ist liebevoll in einen Mantel aus rotem Samt gehüllt und mit einer silbernen Krone geschmückt. Die Menge zieht laut singend, tanzend und klatschend vom Marburger Staatsarchiv zur Synagoge. Das Staatsarchiv wurde bewusst gewählt, obgleich das Gebäude ein typisches Beispiel für NS-Architektur ist. Hakenkreuz-Motive an der Decke zeugen davon. Doch das Haus geht offensiv mit seiner braunen Geschichte um.

baldachin
Auf dem Weg zur Synagoge regnet es ununterbrochen – der Freude tut dies keinen Abbruch. Die neue Tora wird von einem großen Baldachin geschützt. Die vergnügte Prozession endet am neuen Heim der neuen Tora in der Liebigstraße.

Ein Jahr lang hat ein Schreiber in Israel an der rund 40 Meter langen Rolle geschrieben, für die der Förderverein der Synagoge 25.000 Euro gesammelt hat. Die Tora enthält die fünf Bücher Mose, darunter auch die 613 Ge- und Verbote. Wie kunstvoll die Buchstaben mit Federkielen auf das Pergament gebracht wurden, schildert Josef Chranovski. Propst Wöllenstein bewundert den Glanz der Tusche und den langen Prozess: »Wieviel Ehrfurcht kommt darin zum Ausdruck«, staunt er.

Friedhof Das kostbare Buch ersetzt eine etwa 170 Jahre alte Tora, die einst von den Nazis übersehen wurde. Als Amnon Orbach vor mehr als 30 Jahren nach Marburg kam, entdeckte er sie staubbedeckt in einem Haus am jüdischen Friedhof. Auf einem kleinen Spruchband steht, dass sie ursprünglich zu der heute nicht mehr existierenden jüdischen Gemeinde von Wolfhagen gehörte.

Doch die Torarolle ist an mehreren Stellen gerissen und geflickt. Es fehlen Buchstaben, und an manchen Ecken ist sie kaum noch lesbar. Damit ist die Tora eigentlich schon lange nicht mehr koscher. Doch Amnon Orbach will sie nicht – wie im jüdischen Ritus üblich – auf dem Friedhof begraben. Die alte Tora, die so viel erlebt hat, ist ihm ans Herz gewachsen.

Während der Zeremonie ist Orbach so aufgeregt, »dass es nicht zu fassen ist«, wie er vor dem Publikum gesteht. Die Liebe zu einer deutschen Lehrerin hat den Israeli einst nach Marburg verschlagen. Damals war er der einzige Jude in der Universitätsstadt. Heute ist er Ehrenbürger und dienstältester Vorsitzender einer jüdischen Gemeinde in Deutschland.

Synagoge Stolz berichtet er heute vom jüdischen Leben der mittelhessischen Stadt. Schließlich wird zugleich das zehnjährige Jubiläum der neuen Marburger Synagoge in der Liebigstraße gefeiert. 2005 wurde sie in unmittelbarer Nähe der 1938 abgebrannten romanisch-byzantinischen Synagoge eröffnet. Über jedes Detail wurde intensiv diskutiert und nachgedacht – etwa über die Treppen aus der protestantischen Elisabethkirche, die lichte Glaskuppel, den beeindruckenden Ringleuchter und die breiten, bequemen Stühle.

Heute besuchen jedes Jahr einige Tausend Schüler die Synagoge. Es wird Bibel-, Judentums- und Hebräischunterricht erteilt. Und aus der ganzen Stadt kommen Menschen zu Konzerten, Lesungen und Vorträgen in das jüdische Kulturzentrum. »Es soll ein Haus des Friedens für alle Völker und Religionen sein«, sagt Amnon Orbach.

offenheit In dieser Zeit ist ihm auch Egon Vaupel, der nach 18 Jahren aus dem Amt scheidende Marburger Oberbürgermeister, zum guten Freund geworden. Die Stadt sei der jüdischen Gemeinde immer mit »offenem Herzen und offener Hand« begegnet. Vaupel sei »immer a Mensch geblieben«, sagt die stellvertretende Gemeindevorsitzende Monika Bunk.

Vaupel selbst erinnert daran, dass es zunächst nicht einfach war, ein Gebäude für die neue Synagoge zu finden und die Finanzierung zu sichern. Die gemeinsame Vollendung der Torarolle sieht er als Zeichen dafür, dass in Marburg »kein Platz für Ausgrenzung, Diskriminierung und Terror« ist. Von einem »stolzen Datum« spricht er: »Das bedeutet, dass jüdisches Leben in der Stadt wächst und blüht.«

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