Babi Jar

»Inbegriff des Schreckens«

Ein kleiner Tagesausflug ist eine Fahrt mit dem Auto von München nach Kiew, der Hauptstadt der Ukraine, nicht gerade. Rund 1800 Kilometer liegen zwischen den beiden Städten. Und doch gibt es Verbindungen, die emotional nicht enger beieinander liegen könnten. Viktoria Ivanova, die der Israelitischen Kultusgemeinde angehört und in München eine neue Heimat gefunden hat, verkörpert diese Nähe hinsichtlich eines Ereignisses, das einen Blick in die Abgründe des Menschen zulässt, wie es IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch beschreibt.

Vor 75 Jahren, am 29. September 1941, fand in der Schlucht von Babi Jar, die heute zum Stadtgebiet Kiews gehört, das größte Massaker an Juden außerhalb von Auschwitz statt. 33.771 Menschen, darunter besonders viele Frauen und Kinder, wurden innerhalb von 36 Stunden von einer SS-Einsatzgruppe, deutschen Wehrmachtsangehörigen und willfährigen Ukrainern erschossen – Viktoria Ivanova überlebte wie durch ein Wunder.

Massaker »Für uns alle«, rückt Charlotte Knobloch die Perspektive zurecht, »ist Babi Jar, der Inbegriff des Schreckens, nicht vergangen, nicht zur Geschichte geworden. Bis heute ist das barbarische Massaker, nicht zuletzt durch die Zuwanderung vieler Menschen aus der Ukraine und anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion, eine schmerzhafte Erinnerung und Bestandteil des kollektiven Bewusstseins, des alltäglichen Lebens.« Wer mit Viktoria Ivanova rede, betont die IKG-Präsidentin, werde ihre Worte, ihre Geschichte nie wieder vergessen.

Zu den Ämtern, die Charlotte Knobloch bekleidet, gehört auch ihre Funktion als »Beauftragte für Holocaust-Gedenken des World Jewish Congress«, in der sie in Begleitung von IKG-Vizepräsident Ariel Kligmann an der zentralen Gedenkfeier in Kiew teilnahm. Natürlich registrierte sie, dass mit hochrangigen Repräsentanten vieler Staaten, darunter Bundespräsident Joachim Gauck, die historische Bedeutung von Babi Jar auch dort angekommen ist, wo sie hingehört.

Doch dies war lange anders – daran erinnerte die IKG-Präsidentin anlässlich des 75. Jahrestages auch ganz direkt: »Angesichts des Menschheitsverbrechens ist es der Skandal nach der Katastrophe, dass die Erinnerung an das Massaker so viele Jahre lang unterdrückt und verdrängt wurde. Die Toten wurden totgeschwiegen, sie starben damit ein zweites Mal.«

abgrund Neben der Gedenkveranstaltung am Jahrestag der Tragödie am Rande der ukrainischen Hauptstadt hätte Charlotte Knobloch gerne auch an der Gedenkstunde im Gemeindezentrum in München teilgenommen, die jedes Jahr von der IKG-Sozialabteilung organisiert wird und angesichts der vielen zugezogenen Juden aus der Ukraine und der ehemaligen Sowjetunion eine ganz besondere Bedeutung hat. Mit ihren Gedanken und ihrer Rede, die von Caroline Shleyer in russischer Sprache verlesen wurde, war die IKG-Präsidentin dennoch anwesend.

Vertreten war die Israelitische Kultusgemeinde außerdem mit Rabbiner Shmuel A. Brodman und IKG-Vorstandsmitglied Vera Szackamer. Die Teilnehmer der Gedenkstunde wurden durch die Einspielung von Spielfilmfragmenten und literarisch-musikalischen Darbietungen der Jüdischen Gemeinde Augsburg-Schwaben mit der 75 Jahre zurückliegenden Tragödie konfrontiert.

Fast 2000 Kilometer vom IKG-Gemeindezentrum entfernt, gedachte Bundespräsident Joachim Gauck in Babi Jar der Opfer. »Wir sprechen von unermesslichem Leid und wir Deutschen von unermesslicher Schuld, wenn wir vor dem Abgrund der Schoa stehen«, erklärte er und wies zugleich auf den schmerzhaften Prozess hin, »dass kein Nachdenken über die deutsche Schuld und die gemeinsame Geschichte« ohne Blick in den Abgrund von Babi Jar möglich sei. Der Name der Schlucht, so der Bundespräsident, stehe neben dem systematischen Massenmord in den Vernichtungslagern der Nazis für das schlimmste Massaker an Juden.

sorge Ukraines Präsident Petro Poroschenko dürfte Charlotte Knobloch mit seiner Rede aus dem Herzen gesprochen haben, als er ankündigte, den Bau eines Zentrums zur Erinnerung an das Massaker Wirklichkeit werden zu lassen. Die Eröffnung soll im Jahr 2021 stattfinden und dokumentiert nach Überzeugung Poroschenkos den Wandel der Erinnerungskultur, die so viele Jahre vernachlässigt worden ist. Vor den vielen prominenten Teilnehmern der Gedenkstunde, darunter auch EU-Ratspräsident Donald Tusk und der Oberrabbiner von Kiew und der Ukraine, Yaakov Dov Bleich, erklärte er: »Zusammen bauen wir eine Ukraine, in der Antisemitismus keinen Platz mehr hat.«

Die Erkenntnis, dass nur das Wissen über die Vergangenheit die Voraussetzung schafft, die Gegenwart ohne Diffamierung, Hass und Antisemitismus zu gestalten, gehört zu den Kernthesen der IKG-Präsidentin. Das brachte sie auch am Ort des Massakers zum Ausdruck. »Als Deutsche und als Europäerin«, erklärte sie, »beobachte ich die jüngsten Entwicklungen in meiner Heimat und auf unserem Kontinent mit großer, wachsender Sorge. Islamistischer Terror, das Erstarken rechtsextremer Kräfte und die vielen globalen Konflikte und Kriege haben dazu geführt, dass Frieden, Freiheit und Demokratie so gefährdet sind wie nie zuvor seit 1945.«

Gerade in dieser Situation, so Charlotte Knobloch weiter, »ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir uns des Vermächtnisses bewusst sind, das uns die Schoa hinterlassen hat. Im Gedenken an die Opfer von einst müssen wir uns zum unbedingten Ziel setzen, neue Opfer von Hass und Ideologie zu verhindern.«

Frankfurt/Main

»Mein Herz blutet«

In Israel herrsche »Balagan«, Chaos, sagt Chaim Sharvit. Er steht hier denen zur Seite, die zum ersten Jahrestag des 7. Oktober dunkle Gedanken haben. Ein Besuch in Deutschlands größtem jüdischen Altenheim in Frankfurt

von Leticia Witte  14.10.2024

Gedenkveranstaltung

Steinmeier: Wer überlebt hat, trägt schwer an der Last

Fünf Jahre nach dem rechtsextremen Anschlag besucht Bundespräsident Steinmeier die Tatorte.

 09.10.2024

Frankfurt

Graumann und Grünbaum zur Doppelspitze in der Frankfurter Gemeinde gewählt

Den Vorstand vervollständigen Rachel Heuberger, Daniel Korn und Boris Milgram

von Christine Schmitt  09.10.2024

Berlin

»Ein bewegender Moment«

Am Donnerstag fand in Berlin die feierliche Ordination von zwei Rabbinerinnen sowie sechs Kantorinnen und Kantoren statt. Doch auch der monatelange Streit um die liberale Rabbinatsausbildung in Deutschland lag in der Luft

von Ralf Balke  09.09.2024 Aktualisiert

Neue Potsdamer Synagoge

Am Freitag wird der erste Gottesdienst gefeiert

Nach der feierlichen Eröffnung im Juli soll nun das religiöse Leben in der Synagoge in Potsdam langsam in Gang kommen. Am Wochenende sind erste Gottesdienste geplant

 06.09.2024

IKG

»Ein großer Zusammenhalt«

Yeshaya Brysgal zieht nach einem Jahr als Jugendleiter eine positive Bilanz und plant für die Zukunft

von Leo Grudenberg  04.09.2024

Keren Hayesod

»Das wärmt mir das Herz«

Der Gesandte Rafi Heumann über seinen Abschied von Berlin, deutsche Spielplätze und treue Spender

von Christine Schmitt  04.09.2024

Porträt der Woche

Sinn ernten

Caro Laila Nissen half nach dem 7. Oktober Bauern in Kibbuzim nahe Gaza

von Lorenz Hartwig  01.09.2024

Frankfurt

Dinner mit den »Zweiflers«

Die Jüdischen Filmtage überzeugen durch ein breites Spektrum an Angeboten

von Johanna Weiß  30.08.2024