Erinnerung auf Augenhöhe – das war ein entscheidender Parameter, in München, der einstigen »Hauptstadt der Bewegung«, das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus durch Stelen, nicht mit »Stolpersteinen« wachzuhalten.
Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, die von Anfang an für diese Form der Erinnerung eintrat, zieht nach einem Jahr eine positive Bilanz. »Es ist eine gute Nachricht für das Gedenken, für die Erinnerungs- und für die politische Kultur unserer Gesellschaft, dass immer mehr Erinnerungszeichen das Stadtbild prägen«, erklärte sie bei der Gedenkfeier für Ruth Levinger vor dem Wohnhaus in der Gaußstraße 3.
deportation Der Name von Ruth Levinger, die Daten und ihr Foto auf dem Erinnerungszeichen dokumentieren ein besonders dunkles Kapitel der Judenverfolgung in der NS-Zeit. Zusammen mit 190 anderen jüdischen Patienten aus verschiedenen bayerischen Heil- und Pflege-
anstalten wurde sie am 20. September 1940 in die Tötungsanstalt Hartheim deportiert und ermordet. »Diese Deportation«, beschreibt das Stadtarchiv die Tötung der Kranken in einem Flyer, »war der erste systematische Massenmord an Juden, die Vorstufe des Holocaust.«
Tiefergehende Einblicke in die NS-»Gesundheitspolitik«, die mit Begriffen wie »lebensunwert« und »Ballastexistenzen« hantierte und zu »Sonderaktionen« wie den »Euthanasie«-Morden führte, vermittelte bei der Gedenkstunde, an der auch Angehörige der Familie Levinger teilnahmen, Sibylle von Tiedemann.
Die IKG-Mitarbeiterin beschäftigt sich in der Arbeitsgruppe »Psychiatrie und Fürsorge im Nationalsozialismus« seit Jahren intensiv mit der Thematik. In ihrer Rede ging sie auch auf den Aspekt ein, dass die meisten Täter im weißen Arztkittel nach 1945 ihre Karriere ungehindert fortsetzen konnten: »Kaum einer wurde bestraft, im Gegenteil: Vier Ärzte, die in der NS-Zeit an den Morden beteiligt waren, wurden sogar Direktoren von bayerischen Bezirkskrankenhäusern.«
auswanderung Ruth Levinger, die zu den Mordopfern zählt, wurde am 20. Januar 1908 als Tochter des Arztes Siegfried Levinger und seiner Frau Elisabeth geboren und verbrachte gemeinsam mit ihrem jüngeren Bruder eine schöne und behütete Kindheit in ihrem Elternhaus. Sie besuchte das Luisengymnasium, machte ein glänzendes Abitur und studierte an der Ludwig-Maximilians-Universität München Medizin und Philosophie.
1932 erkrankte sie und wurde die darauffolgenden Jahre in verschiedenen Heilanstalten behandelt. Dem Bruder gelang 1933 die Auswanderung nach Palästina, die Eltern folgten drei Jahre später. Die erkrankte Tochter mussten sie zurücklassen, es gab keine Möglichkeit zur Ausreise für sie.
Auf diesen besonders schmerzlichen Aspekt ging auch Charlotte Knobloch in ihrer Rede ein. Der antisemitische Wahnsinn, so die IKG-Präsidentin, habe die Eltern vor die Wahl gestellt, entweder die Gelegenheit zur Auswanderung zu nutzen und ihre Tochter allein zurückzulassen oder zu bleiben und zu riskieren, dass allen drei etwas Schlimmeres zustoße.
Die Fassungslosigkeit über die Unmenschlichkeit schwang auch in den Reden mit.
»Jedem fühlenden Menschen muss es angesichts so einer Situation das Herz zerreißen«, sagte die IKG-Präsidentin auch mit Blick auf ihre eigene Familiengeschichte. »Auch ich«, so Charlotte Knobloch, »kann bis heute nicht das Gefühl von Angst und Verzweiflung in meiner eigenen Familie vergessen, als wir zwischen der Emigration und dem familiären Beistand für meine g’ttselige Großmutter zu entscheiden hatten.«
Die Fassungslosigkeit über den damaligen Abgrund an Unmenschlichkeit, dem Ruth Levinger und so viele andere Menschen zum Opfer fielen, schwang auch in den Reden von Stadtrat Thomas Ranft, der als Vertreter des Oberbürgermeisters an der Gedenkstunde teilnahm, und von Angelika Pilz-Strasser als Vertreterin des Bezirksausschusses mit.
privileg Charlotte Knobloch bezeichnete diese Erinnerung aber auch als Privileg, das der heutigen und den künftigen Generationen aus dem Sieg über die menschenverachtende Ideologie der Nationalsozialisten erwachsen sei. »Nur weil wir in Freiheit leben, können wir in Freiheit erinnern«, stellte sie klar, wies aber zugleich auf die damit verbundene Verantwortung hin, Freiheit und Demokratie zu verteidigen.
Die IKG-Präsidentin stellte mit Blick auf den 70. Jahrestag der Gründung der Bundesrepublik außerdem fest, dass diese Erfolgsgeschichte dem Grundsatz zu verdanken sei, der in wenigen Worten die Antithese zur nationalsozialistischen Terrorherrschaft darstelle: Die Würde des Menschen ist unantastbar.
»Vor dem Hintergrund einer unmenschlichen Vergangenheit«, mahnte Knobloch am Ende ihrer Rede, »muss uns die Menschenwürde heute mehr Leitstern sein als je zuvor. Auch dafür steht dieses Erinnerungszeichen zum Gedenken an Ruth Levinger.«