Stella Schindler-Siegreich kann ihre Rührung nicht verbergen. Nicht vor den Kameras und auch nicht vor den rund 500 Gästen, die sich in dem neuen Mainzer Gotteshaus drängen. Sie will es eigentlich auch gar nicht. Der »Chorale Juive de France« stimmt seine Gesänge an, die im Gebetsraum der Synagoge widerhallen. Die Vorsitzende der Mainzer Gemeinde hält die Augen geschlossen, während die Torarollen aus dem alten Gemeindezentrum in der Forsterstraße endlich eintreffen und im Aron Ha Kodesch eingeschlossen werden.
»Das ist ein sehr bewegender Augenblick für mich und die ganze Gemeinde«, erklärt sie einige Minuten später, als sie ans Mikrofon tritt, als erste einer ganzen Reihe prominenter Redner, die an diesem Freitagvormittag ihrer Freude über die Eröffnung der neuen Mainzer Synagoge Ausdruck geben wollen. Tageslicht fällt durch die Lichtöffnungen des großen Turms, der einem Schofar-Horn nachempfunden ist, in den Innenraum, verwandelt das glänzende Goldgelb der Wandverkleidung in ein heimelig anmutendes Ocker. Von einem »Zauber« spricht Schindler-Siegreich. Und der Hoffnung, die mit der Eröffnung verbunden ist, die »im Vertrauen auf eine blühende Zukunft« errichtet worden sei.
Knapp anderthalb Jahrzehnte sind vergangen, seit die damalige Gemeindevorsitzende Esther Eppstein die Idee für ein neues jüdisches Gemeindezentrum erstmals ins Gespräch gebracht hatte. Zwei Jahre dauerten die Bauarbeiten, rund zehn Millionen Euro wurden von der Gemeinde, dem Land Rheinland-Pfalz, dem Bund und vielen privaten Spendern zusammengetragen, um die Synagoge an der Stelle errichten zu können, an der vor genau 98 Jahren, am 3. September 1912, bereits die Hauptsynagoge eingeweiht wurde, die in der Reichspogromnacht dem Naziterror zum Opfer fallen sollte. »Es war der Tag der Zerstörung eines Traums«, wird der Mainzer Oberbürgermeister Jens Beutel (SPD) in seiner Rede feststellen, »jetzt ist es der Tag der Erneuerung dieses Traums.«
Traum Der »Traum« der jüdischen Gemeinde Mainz hat eine ungewöhnliche architektonische Form angenommen. Die mit grünlich glänzender Keramik verkleidete Silhouette ahmt die fünf hebräischen Buchstaben des Wortes »Kedushah« nach, was so viel bedeutet wie »Heiligkeit«. In der von einer Mischung aus Gründerzeitbauten und nüchterner Nachkriegsarchitektur geprägten Mainzer Neustadt stellt der Synagogenbau ein architektonisches Ausrufezeichen dar, wie viele Festredner an diesem Nachmittag betonen werden.
Ein Blickfang, zu dem man sich jedoch durchkämpfen muss. Der Platz, der nunmehr den Namen »Synagogenplatz« trägt, ist weiträumig abgesperrt. Zivilpolizisten scheinen zwischen Hauptbahnhof und neuer Synagoge an jeder Ecke zu lauern. Derweil sind ihre uniformierten Kollegen damit beschäftigt den Verkehr umzuleiten. Ein Aufwand, der weit über das hinauszugehen scheint, was bei jüdischen Veranstaltungen in Deutschland üblich ist.
Umzug Prominenter Besuch hat sich angekündigt: der israelische Botschafter Yoram Ben-Zeev, Karl Kardinal Lehmann und der Präsident der evangelischen Kirche in Hessen Nassau, Volker Jung. Dazu der Oberbürgermeister von Mainz, Landesvater Kurt Beck und vor allem Bundespräsident Christian Wulff. Letzterer wird mit einigen Minuten Verspätung eintreffen. Nicht so Kurt Beck. Wer sich durch den langen Kordon von Sicherheitskräften kämpft, kann an diesem Vormittag ein seltenes Schauspiel beobachten: Einen Ministerpräsidenten, der tanzend durch die Straßen seiner Landeshauptstadt zieht, an seiner Seite der Düsseldorfer Rabbiner Julian Chaim Soussan und die Torarollen der Mainzer Gemeinde.
»Ein wunderbarer Tag« sei es für ihn gewesen, wird Beck später erklären. »Mit ihrer herausragenden Architektur wird die neue Synagoge weit über Mainz hinausstrahlen und der jüdischen Gemeinde mitten in unserer Stadt eine Zukunft geben.« Vom Wiederaufleben der Tradition der mittelalterlichen SCHUM-Städte wird an diesem Tag die Rede sein, von der Bedeutung des Neubaus für Mainz. »Für unsere Stadt, mit ihrer großen jüdischen Tradition, ist dies die Vollendung eines Jahrhundertprojekts«, sagt Jens Beutel. Am Tag ihrer Eröffnung scheint die Synagoge nicht allein der Gemeinde zu gehören, sondern der ganzen Stadt, wenn nicht dem ganzen Land.
»Ein besonderer und bedeutender Ort« sei an dieser Stelle entstanden, sagt Bundespräsident Wulff. »Einer, an dem Alt und Neu auf faszinierende Weise zusammenfinden.« Ausdrücklich lobt Wulff die Integrationsleistung, die von den jüdischen Gemeinden in den vergangenen zwei Jahrzehnten der Zuwanderung erbracht worden sei, und die zum Wiederaufleben des Judentums in Deutschland geführt hätten. Das zeige sich auch in Synagogenneubauten. »Ich bewundere die Entschlossenheit, trotz der Schrecken der Vergangenheit, ein solches Zeichen zu setzen«, so Wulff.
Hoffnung Auch für die Zentralratspräsidentin Charlotte Knobloch stellen neue Synagogen »ein selbstbewusstes Symbol« für die »Heimkehr des deutschen Judentums« dar. Sie erinnert daran, dass nach 1945 der Verbleib von Juden in Deutschland mehr als umstritten war. »In der jüdischen Welt war man sich einig, dass es ein wie auch immer geartetes Judentum in Deutschland nicht mehr geben kann«, sagt Knobloch. Doch das Vertrauen, dass die überlebenden und in Deutschland verbliebenen Juden in die damals neue Bundesrepublik gesetzt hätten, habe sich nun ausgezahlt. »Meine Hoffnung, dass jüdisches Leben in diesem einst gebrochenen Land möglich ist, hat sich als richtig erwiesen.«