AfD

»Ich war erschrocken«

Gemeindechef Sharon Fehr über Verbalattacken, Antisemitismus in Münster und »Freunde der Palästinenser«

von Heide Sobotka  08.01.2018 15:54 Uhr

»Der zunehmende Antisemitismus verunsichert unsere Mitglieder«: Sharon Fehr Foto: PR

Gemeindechef Sharon Fehr über Verbalattacken, Antisemitismus in Münster und »Freunde der Palästinenser«

von Heide Sobotka  08.01.2018 15:54 Uhr

Herr Fehr, Sie sind jüngst vom AfD-Ratsherrn Martin Schiller mit den Worten angegriffen worden: »Wahrscheinlich genießen Sie den schleichenden Verfall des Landes, welches Sie verachten.« Voraus ging Ihre Kritik an dem Tweet der stellvertretenden AfD-Bundesvorsitzenden Beatrix von Storch, in dem sie Flüchtlinge als »barbarische, muslimische, gruppenvergewaltigende Männerhorden« pauschal diffamierte. Zeigt sich jetzt das wahre Gesicht der AfD?
Ich war erschrocken über diese Reaktion auf meinen doch sehr sachlichen Kommentar auf die zügellosen Äußerungen der Bundesspitze der AfD. Die perfide Art, wie die AfD-Ratsgruppe Münster semantisch zwischen »unserem deutschen Vaterland« einerseits und »Ihrem« andererseits unterscheidet, zeigt das Staats- und Politikverständnis der AfD. Dass mir dann auch noch eine »Verachtung« Deutschlands vorgeworfen wird, ist an unterirdischem Nonsens wohl kaum noch zu überbieten.

Gab es davor schon einmal Auseinandersetzungen mit der AfD?

Ja! Die AfD Münster bezog viele Wochen vor und während der Bundestagswahl 2017 ihren Info-Stammplatz in der Innenstadt unmittelbar vor unserer Haustür. Es fanden dort häufiger Gegendemonstrationen statt: »Keine Stimme der AfD!« Auf Facebook beschrieb ich die Überzeugung der Demonstranten, mit der AfD werde es keine soziale Politik, keine soziale Gerechtigkeit und keine Sicherheit geben. Sie habe zu all dem kein Programm. Darauf reagierte die AfD-Ratsgruppe erstmals mit: »Gerade Sie wissen, welche Gefahr (…) vor der Tür steht.« Oder: »Die Ihnen jetzt auf die Schulter klopfen, werden die Ersten sein, die Sie im Stich lassen (...), wenn es darauf ankommt.«

Wie haben denn die Münsteraner Bürger reagiert?

Mitglieder des Stadtrats, Bürgermeister, die Politik, Kirchen, Gesellschaften haben unmittelbar reagiert und ihre solidarische Verbundenheit mit mir und unserer Gemeinde erklärt. Sobald rechtspopulistische, rassistische, antisemitische Äußerungen wie jetzt aus der AfD-Ratsgruppe öffentlich bekannt werden, rückt das bürgerschaftliche Engagement in Münster noch enger zusammen.

Welchen Einfluss hat die AfD in Münster?

Nirgendwo hat die AfD bei der Bundestagswahl 2017 so schwach abgeschnitten wie in Münster. Sie blieb und bleibt mit unter fünf Prozent chancenlos. Die Münsteraner sind gemeinsinnorientiert, sie haben eine hohe Bereitschaft und Vermögen zur Diskussion. Da braucht es andere Beiträge als populistische Sprücheklopferei, um danach zu erklären, alles sei nur ein Missverständnis. Hiermit steht die AfD auf weiter, breiter Flur allein. Auch andere politisch rechts ausgerichtete Gruppierungen haben in Münster keine Chance. Sie scheinen sich eher auf das Ruhrgebiet, Dortmund, Hagen und Gelsenkirchen, zu konzentrieren.

Sie haben nach der Anfeindung durch die AfD viel Solidarität von anderen Parteien erfahren. Was bedeutet das für Sie und die Jüdische Gemeinde Münster?
Durch die Zunahme des Antisemitismus sind unsere Mitglieder höchst verunsichert. Die allermeisten legen großen Wert darauf, sich außerhalb unseres Jüdischen Gemeindezentrums »jüdisch neutral« zu verhalten. Andererseits erleben wir durch die breite Solidarität in Münster, dass wir bei der Konfrontation mit den menschenverachtenden, antisemitischen Sprüchen der AfD nicht alleingelassen werden. Es nimmt Ängste und verleiht die objektiv ungewisse Zukunftshoffnung, als jüdische Bürger nicht doch eines Tages ans Kofferpacken denken zu müssen.

In Landstrichen Sachsens hat die AfD nicht nur fünf, sondern 35 Prozent der Stimmen erlangt. Wie bedrohlich empfinden Sie das Gesamtklima in Deutschland?
Ich unterschätze die AfD nicht. Sie ist eine Partei, die Minderheiten in unserer Gesellschaft mit Anfeindungen, Schmähungen und Drohungen überzieht. Heute positioniert sich die AfD vorwiegend gegen geflüchtete Menschen, insbesondere gegen Muslime. Die Hassargumente aber sind austauschbar. Und wir wissen nicht, wann Flüchtlinge und Muslime gegen uns Juden ausgetauscht werden. Das macht uns Sorge.

Haben Sie in der Vergangenheit rechtsgerichtete Attacken gegen jüdische Einrichtungen erlebt?

Ja, es gab immer wieder auch Attacken gegen unser Jüdisches Gemeindezentrum. Der Gedenkstein der Stadt Münster in Erinnerung an die Zerstörung der Synagoge 1938 wurde immer wieder mit Hakenkreuzen beschmiert. Anonyme Täter entfernten ihn eines Tages gar komplett. Dann gab es in den 80er-Jahren einen Wurfbrandsatz, in den 90er-Jahren wurde die Fensterscheibe eines Büros eingeworfen, und unmittelbar vor Jom Kippur 2015 schoss ein Unbekannter mit einer Waffe auf ein Fenster unseres neuen Gemeindefestsaals. Zu beobachten ist auch, dass je nach Ereignis in Israel sich Menschen hier ein Ventil suchen, um Frustrationen und Zorn gegen Israel an uns »abzuarbeiten«. Während des Gaza-Konflikts vor dreieinhalb Jahren patrouillierten die »Freunde der Palästinenser« vor unserer Synagoge auf und ab und skandierten: »Juden, ihr Kindermörder. Geht ins Gas!« Das war in Münster schon sehr heftig. Doch auch damals erfuhren wir eine große Solidarität aus der Stadtgesellschaft.

Werden Sie sich noch rechtlich mit Herrn Schiller auseinandersetzen?
Im Moment denke ich nicht daran, zumal ich nicht beurteilen kann, ob dadurch, dass die AfD-Ratsgruppe Münster mir die deutsche Staatsbürgerschaft abspricht und unterstellt, Deutschland zu hassen, der Tatbestand der antisemitischen Hetze erfüllt wird. Wir dürfen gespannt sein, was von der AfD-Ratsgruppe noch zu erwarten steht, ehe sie sich selbst zerlegt haben wird.

Mit dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Münster sprach Heide Sobotka.

Frankfurt/Main

»Mein Herz blutet«

In Israel herrsche »Balagan«, Chaos, sagt Chaim Sharvit. Er steht hier denen zur Seite, die zum ersten Jahrestag des 7. Oktober dunkle Gedanken haben. Ein Besuch in Deutschlands größtem jüdischen Altenheim in Frankfurt

von Leticia Witte  14.10.2024

Gedenkveranstaltung

Steinmeier: Wer überlebt hat, trägt schwer an der Last

Fünf Jahre nach dem rechtsextremen Anschlag besucht Bundespräsident Steinmeier die Tatorte.

 09.10.2024

Frankfurt

Graumann und Grünbaum zur Doppelspitze in der Frankfurter Gemeinde gewählt

Den Vorstand vervollständigen Rachel Heuberger, Daniel Korn und Boris Milgram

von Christine Schmitt  09.10.2024

Berlin

»Ein bewegender Moment«

Am Donnerstag fand in Berlin die feierliche Ordination von zwei Rabbinerinnen sowie sechs Kantorinnen und Kantoren statt. Doch auch der monatelange Streit um die liberale Rabbinatsausbildung in Deutschland lag in der Luft

von Ralf Balke  09.09.2024 Aktualisiert

Neue Potsdamer Synagoge

Am Freitag wird der erste Gottesdienst gefeiert

Nach der feierlichen Eröffnung im Juli soll nun das religiöse Leben in der Synagoge in Potsdam langsam in Gang kommen. Am Wochenende sind erste Gottesdienste geplant

 06.09.2024

IKG

»Ein großer Zusammenhalt«

Yeshaya Brysgal zieht nach einem Jahr als Jugendleiter eine positive Bilanz und plant für die Zukunft

von Leo Grudenberg  04.09.2024

Keren Hayesod

»Das wärmt mir das Herz«

Der Gesandte Rafi Heumann über seinen Abschied von Berlin, deutsche Spielplätze und treue Spender

von Christine Schmitt  04.09.2024

Porträt der Woche

Sinn ernten

Caro Laila Nissen half nach dem 7. Oktober Bauern in Kibbuzim nahe Gaza

von Lorenz Hartwig  01.09.2024

Frankfurt

Dinner mit den »Zweiflers«

Die Jüdischen Filmtage überzeugen durch ein breites Spektrum an Angeboten

von Johanna Weiß  30.08.2024