Ich habe in Ost-Berlin am Pankower Carl-von-Ossietzky-Gymnasium mein Abitur abgelegt. Dort gingen Oppositionskinder in die gleiche Klasse wie die Politbürokinder. Dann habe ich die Aufnahmeprüfung an der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst gemacht. 1993 bin ich nach Frankfurt gezogen. Das war wirklich eine andere Welt.
Schon im zweiten Studienjahr habe ich am Schauspiel Frankfurt gespielt. Ich hatte Unterricht beim Regisseur Hans Hollmann, der damals die Regieabteilung leitete. Auch der berühmte Kunst- und Theaterkritiker Peter Iden, damals Feuilletonchef der »Frankfurter Rundschau«, unterrichtete an der Hochschule Schauspiel. Ich habe mein Diplom gemacht und relativ früh mein erstes Kind bekommen.
Dann wurde es schwierig mit dem Theater. Die Betreuungssituation war damals in Frankfurt eine ganz andere als heute. Die Jüdische Gemeinde hatte zwar zwei Kindergärten, aber noch keine Krabbelstube. Für Kinder unter drei Jahren gab es nichts. Ich fand es sehr schwierig und zerreißend, diesen Spagat hinzukriegen. Ich habe das Theater Stück für Stück aufgegeben. 2007 habe ich am Fritz-Rémond-Theater meine letzte Produktion gemacht.
Jom Kippur ist der einzige Tag im Jahr, an dem ich Handy und Computer ausschalte.
Vor vielen Jahren – da dachte ich noch gar nicht daran zu schreiben – nahm mich einmal jemand mit zu dem letzten Verfahren, das Magnus Gäfgen gegen das Land Hessen geführt hat. Gäfgen hatte 2002 den damals elfjährigen Bankierssohn Jakob von Metzler entführt und umgebracht. Wegen angeblicher Verfahrensfehler ging er durch alle Instanzen, um sich gegen das Urteil zur Wehr zu setzen. Er wollte auch ein Schmerzensgeld vom Land Hessen.
Ich fand es unglaublich faszinierend, diese Szenerie zu beobachten. Dieser unbeteiligte, sehr schlaffe, nur mit sich selbst Mitleid habende, damals schon als Mörder verurteilte Gäfgen – und auf der anderen Seite der Hauptkommissar, der damals die Vernehmung geführt hatte, an der Anstoß genommen wurde, weil er mit einer Folterandrohung eine Grenze überschritten hat. Es gab damals eine Presseempore, die geöffnet wurde. Man schaute wie im Theater hinunter auf die Verfahrensbeteiligten. Ich habe gedacht: Diese Atmosphäre muss man schildern, diese ganzen unterschiedlichen Befindlichkeiten, das Auftreten.
AVIV Das nächste Verfahren, das ich besuchte, war der »Aviv«-Prozess. Ein Frankfurter Lebensmittelgeschäft hatte nichtkoscheres Fleisch als koscher verkauft. Damals habe ich wie verrückt mitgeschrieben. Ich hatte Glück. Ich lernte jemanden von der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« kennen und erzählte, dass ich so gern eine Gerichtsreportage schreiben würde. Da sagte er: »Mach doch mal, und ich gucke mir das an.« So ging das los.
Ich suche mir die Verfahren aus, die ich besuche. Das ist eigentlich eine Mischung aus allem. Ich gehe in die großen Strafverfahren am Landgericht, aber auch genauso gerne ins Amtsgericht mit diesen kleinen alltäglichen Geschichten, die wirklich jedem passieren können. Der Ansatz unterscheidet sich nicht im Wesentlichen von der Arbeit, die ich vorher am Theater gemacht habe. Ich besuche eine Hauptverhandlung grundsätzlich komplett. Danach schreibe ich einen Text. Ich versuche, die Geschichte so wahrhaftig und anschaulich wie möglich zu schildern, ohne zu werten.
Ich habe ein großes Misstrauen gegen das Sentiment.
Ich maße mir kein Urteil an. Das steht mir auch nicht zu. Die Leser sollen mit dabei sein und sich selbst ein Urteil bilden können. Ich sitze da und schreibe Beobachtungen und viele Zitate mit, um es so authentisch wie möglich hinzubekommen. Ich versuche, das, was passiert ist und in der Hauptverhandlung erörtert werden muss, wie einen Film darzustellen.
Ich habe ein großes Misstrauen gegen das Sentiment. Thomas Mann soll einmal gesagt haben: »Das warme Gefühl taugt nichts.« Ich versuche, in den Geschichten, die ich nach den Prozessen erzähle, die Protagonisten sprechen zu lassen. Wie man die Dinge interpretiert und was man damit macht, das soll möglichst dem Leser überlassen bleiben.
SUSANNA Ich habe auch den Prozess im Fall der ermordeten Susanna am Landgericht Wiesbaden besucht. Diese Geschichte zu schreiben, ist mir nicht so ganz leichtgefallen. Das Verfahren zog sich über fünf Monate hin. Es wirkte vielleicht von außen betrachtet ganz spannend, das war es aber in der Hauptverhandlung nicht. Die Tat stand fest, es gab ein Geständnis, was die Ermordung betraf. Die Vergewaltigung wurde geleugnet. Die war auch nicht wirklich zu beweisen, einfach aufgrund der Tatsache, dass der Leichnam bei über 30 Grad mehr als zwei Wochen an einem Bahndamm gelegen hat. Von der Rechtsmedizin konnten keine Spuren gesichert werden.
Man hat sich aber ein ganz gutes Bild von Susanna machen können. Sie war an diesem Abend, in dieser Nacht, in eine sich zuspitzende und für sie immer gefährlicher werdende Situation geraten. Es ist im Prinzip vom Täter gut eingefädelt gewesen, die Gelegenheit zu schaffen, mit dem Mädchen allein zu sein. Es ist völlig klar, dass er sowieso schon immer auf der Suche nach jungfräulichen Mädchen gewesen ist, da einige Sachen am Laufen hatte – und dass er eben auch Susanna haben wollte.
Die Jugendlichen, die dort vernommen worden sind, die ganze Clique, haben zum Teil unglaublich schlecht gelogen – die Jungs eher mit Angst, die Mädchen sicherlich auch zum Teil mit einer Mischung aus Schuldgefühlen und schlechtem Gewissen. Das hat dazu geführt, dass das Verfahren sehr anstrengend zu verfolgen war. In der Truppe ist der kleine Bruder des Täters gewesen. Sie waren alle schwärmerisch begeistert von diesem jungen Mann. Das war auch ein Grund, weshalb niemand etwas sagen wollte: Weil sie alle in ihrem verdrehten Verständnis dachten, sie würden dann abgeschoben.
Susannas Mutter und ihr Lebensgefährte sind per WhatsApp und auch persönlich jeden Tag zu dieser Clique gegangen. Alle standen vor den Eltern und sagten: Wir wissen nichts. Sie wussten am Tag danach schon, dass Susanna tot ist. Denn Hadji hatte es ihnen erzählt. Der Mitangeklagte Mansoor, gegen den ein Parallelverfahren wegen der Vergewaltigung einer Elfjährigen lief, hat es auch erzählt. Er hat zwei Tage nach der Tat einigen Mädchen erzählt, dass sie tot ist und wo sie liegt. Aber niemand hat etwas gesagt. Das war das Ungeheuerliche an diesem Verfahren.
BUCH Ich glaube, die schlechten Urteile über die Justiz kommen auch dadurch zustande, dass sich kaum noch eine Zeitung einen Gerichtsreporter leistet, der die gesamte Hauptverhandlung besucht. Die Leute lesen in der Zeitung von einer Anklage, und irgendwann lesen sie von einem Urteil. Ich erlebe immer wieder bei meinen Lesungen, dass die Leute ganz überrascht, aber auch beruhigt sind, zu erfahren, wie aufwendig so eine Hauptverhandlung ist: wie viele Zeugen befragt, wie gründlich ermittelt wird. Diesen ganzen Mittelteil erzähle ich in meinen Geschichten.
Ich habe relativ spät mit dem Schreiben begonnen. Jetzt bin ich ganz glücklich.
Ich habe relativ spät mit dem Schreiben begonnen. Jetzt bin ich ganz glücklich. Es ist der Beruf, den ich machen möchte. 2018 hat mich die Literaturagentur Landwehr & Cie unter Vertrag genommen. Sie sagten als Erstes zu mir: »Frau Erdtmann, als Nächstes schreiben Sie einen Roman.« Ich sagte: »Nein! Nichts ist erschreckender als die Realität. Ich habe eigentlich überhaupt kein Interesse daran, durch mein Hirn zu wandern.« Aber sie bestanden darauf.
Den Roman habe ich gerade beendet. Ich habe ihn bei der Agentur abgegeben.
SCHABBAT Ich bin nicht religiös. Meine Kinder wachsen aber mit den jüdischen Feiertagen auf. Diesen Jahresrhythmus finde ich ganz wichtig. Das schönste Fest ist für mich Pessach, der Sederabend. Wir haben immer einen großen, vollen Tisch, auch mit Freunden, die sich das ganze Jahr darauf freuen. Ich koche sogar Gefilte Fisch, so scheußlich, wie das ist.
Im vergangenen Jahr hatte ich viel zu tun. Zwei Tage vor Pessach fuhr ich in den Edeka-Markt im Frankfurter Ostend, um Gefilte Fisch fertig zu kaufen. Und es gab nichts mehr! Es gab noch nicht einmal mehr Mazza. Ich war entsetzt. Dann bereitete ich im Schweiße meines Angesichts Gefilte Fisch zu. Damit schoss ich mir aber ein Eigentor. Denn er kam so gut an, dass meine Gäste fragten: »Machst du es nächstes Jahr wieder?«
Ich bin jedes Jahr an Jom Kippur in der Synagoge. Ich merke, dass mir das guttut. Ich gestehe, es ist der einzige Tag, an dem ich das Handy ausschalte und auch den Computer auslasse, dann wirklich auch den ganzen Tag dort sitze. Tagsüber leert es sich dann. Das mag ich ganz gern, den Tag in der Synagoge zu sitzen und komplett »offline« zu sein. Man müsste das sicherlich öfter machen. Es würde einem wahrscheinlich auch guttun, wirklich den Schabbat zu halten, einen Tag innezuhalten. Aber ich arbeite einfach jeden Tag.
Aufgezeichnet von Eugen El