Nürnberg ist nicht Tel Aviv. Nürnberg ist Deutschland. Eine kleine Stadt. Ein bisschen Provinz. Und Nürnberg hat seine Geschichte. Trotzdem fühle ich mich hier wohl. Und, ehrlich gesagt, könnte ich als Jüdin den ganzen Tag mit einer Fahne durch die Straßen ziehen und singen. Ich könnte singen: »Und am Ende haben wir doch gewonnen.«
Als ich einmal im »Kolosseum« hier auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände stand, da habe ich gedacht: »Tja, Hitler, du kannst dich jetzt mehrfach in deinem Grab umdrehen, aber ich bin da!« So etwas gibt mir ein Triumphgefühl. Noch mehr zu Hause fühle ich mich, seit es hier in Nürnberg nun doch auch ein bisschen Tel-Aviv-Feeling gibt. In meinem Restaurant nämlich, das ich »Tel Aviv« genannt habe.
reklame Ich habe null Reklame für mein Lokal gemacht. Es befindet sich zudem in einer Ecke, wo kaum etwas los ist; es gibt so gut wie gar keine Laufkundschaft. Aber die Leute kommen trotzdem. Es hat sich einfach herumgesprochen, dass der Ort etwas Besonderes ist, schon allein deshalb, weil man hier statt mit »Grüß Gott« mit »Schalom« begrüßt wird.
Ich öffne erst am Abend. Und Montag ist Ruhetag. Da bleibt die Küche geschlossen. Dafür werden alle zwei Wochen montags ganz schnell sämtliche Tische zur Seite gerückt, denn dann wird Tango getanzt. Zwischen 50 und 70 Leute schieben sich an diesen Abenden übers Parkett. Es ist so richtig schön eng, und dazwischen zeigt ein Maestro, wie es geht. Ich gebe die Organisatorin und den DJ, lege auf bis morgens um eins.
Ich liebe das alles – zu kochen, meine Arbeit, mein Restaurant. Ich liebe Tango. Und die Leute, die hierherkommen, lieben all das auch. Ich liebe mein Leben!
Mein Großvater war Rabbiner in Spanisch-Marokko. Er wurde 114 Jahre alt.
Geboren wurde ich 1953 in der Stadt Tétuan im früheren Spanisch-Marokko, einer vormals spanischen Enklave in Nordafrika. Heute gehört dieser Küstenlandstrich zu Marokko. 1958, fünf Jahre nach meiner Geburt, wanderte meine Familie nach Israel aus.
Wir waren acht Geschwister zu Hause, von denen heute leider schon einige gestorben sind.
In einer großen Familie aufzuwachsen, das hat schon etwas. Und ja, bei den orientalischen Juden war das immer schon so üblich, dass die Mädchen einfach erst einmal kochen lernten. Wir bekamen das seit frühester Kindheit mit, waren von Anfang an von guten Speisen und Gerüchen umgeben. Meine Mutter und meine Oma waren beide großartige Köchinnen.
FAMILIE Aber ich komme nicht nur aus einer großen, sondern auch aus einer religiösen Familie. Mein Großvater war ein bekannter Rabbiner, und bis heute habe ich Respekt vor dieser alten Rabbinergeneration. Viele von ihnen, so war das zumindest bei meinem Großvater, waren in erster Linie Sozialarbeiter.
Mein Großvater ist auf die Straße gegangen und half Leuten, die Probleme hatten. 114 Jahre alt ist er geworden. 114 Jahre! Er war ein Männchen von einsfünfzig mit einem weißen Bart, der bis zu seinen Hüften reichte. Die Leute sind von weit her angereist, um ihn zu sehen und mit ihm zu sprechen – und um von ihm eine Bracha zu bekommen.
Ich liebe Zahlen, ich liebe Mathematik.
Als ich Jahre später für längere Zeit in einem Hotel in Arad am Toten Meer als Buchhalterin gearbeitet habe – ich liebe Zahlen, ich liebe Mathematik –, lernte ich eine ganz andere Religion kennen, eine, die mit mir überhaupt nichts mehr zu tun hatte.
In meinem Hotel fanden mehrmals im Jahr Seminare statt für Vertreter der ultraorthodoxen Richtung. Das ist nicht die Religion, mit der ich aufgewachsen bin. Damit konnte ich überhaupt nichts anfangen; das ist bis heute so geblieben.
In diesem Hotel habe ich übrigens auch meinen Mann kennengelernt. Er kam aus Nürnberg und litt an Psoriasis, an Schuppenflechte. Ich habe gearbeitet, er hat seine Kur gemacht.
fernbeziehung Liebe auf den ersten Blick war das sicher nicht. Ich hielt ihn für eine totale Nervensäge. Jeden Tag kam er und fragte: »Wollen wir ein Bier zusammen trinken?« Er wollte mit mir über Dinge sprechen, die in der Zeitung standen, war sehr wissbegierig. »Wer ist das? Was bedeutet das? Wie läuft das alles in Israel ab? Wollen wir zusammen ein Bier trinken?«
Ich gab ihm immer wieder einen Korb. Ich hatte meine Gründe. Ich war gerade frisch geschieden, hatte zwei Kinder zu versorgen und außer ihnen nur Arbeit, Arbeit, Arbeit im Kopf. Und nach der Arbeit wollte ich nichts wie nach Hause. Eine neue Beziehung? Ein neuer Liebhaber? Bloß nicht.
Er fragte wieder: »Trinkst du noch ein Bier mit mir?« Da hat es dann wohl gefunkt. Das war 1979.
Und dann, am vorletzten Abend, saß ich noch bis zwei Uhr morgens an meinem Schreibtisch – in meiner Kasse hatte irgendetwas nicht gestimmt. Ich war gerade dabei, alle Rechnungen noch einmal durchzugehen, da kam er gerade zurück aus der Disco und fragte wieder: »Trinkst du noch ein Bier mit mir?« Da hat es dann wohl gefunkt. Das war 1979.
Er ging dann wieder zurück nach Deutschland, und erst einmal blieben wir in Briefkontakt. Er konnte sich damals in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen, in Israel zu leben, und mir ging es ganz genauso mit Deutschland. Aber ohne einander zu sein, das funktionierte auch nicht. Wir haben nur noch für unsere Flugtickets gearbeitet, sind hin- und hergeflogen.
GESELLSCHAFT 1983 kam ich dann schließlich zum ersten Mal für ein Jahr nach Deutschland. Aber das ging schief. Nürnberg war schrecklich konservativ, sehr fremdenfeindlich. Am meisten verstört haben mich die Kinder. Sie waren wie Erwachsene, nur in Miniaturform. Sie trauten sich nicht einmal, einfach über eine Wiese zu laufen. Nur die Hunde sind auf die Wiese gelaufen. Und ich habe mich gewundert und dachte: »Was läuft da falsch in dieser Gesellschaft?«
Einmal hat sich eine Frau in der Straßenbahn aufgeregt, weil ein Baby weinte, woraufhin ihr Hund begonnen hat zu bellen. Das war mir alles sehr fremd.
Auch die Schulen waren seltsam. Die einzige Alternativschule, die es damals in Nürnberg gab, war eine Waldorfschule. Und da musste man die Kinder in den Religionsunterricht geben. Ich habe zur Direktorin gesagt: »Aber meine Kinder sind Juden.« Dann guckt die meinen Mann an und sagt: »Wie können wir heutzutage Kinder zu guten Erwachsenen erziehen ohne Beispiele aus der Bibel?«
1983 habe ich meine Kinder gepackt und ging zurück nach Israel.
Am Ende hat es dann in der Schule um die Ecke gut geklappt. Die Kinder waren glücklich. Ich aber blieb unglücklich. 1983 habe ich jedenfalls meine Kinder gepackt und ging zurück nach Israel. Wieder folgten zwei Jahre Fernbeziehung, bis mein Mann endlich nachkam. Wir lebten zehn Jahre zusammen in Israel, unser drittes Kind wurde geboren. 1994 ging es zurück nach Deutschland. Die Eltern meines Mannes brauchten uns. Mehrere Anläufe waren nötig, um mit Deutschland warm zu werden. Aber jetzt bin ich glücklich. Und das hat auch mit meinem Lokal zu tun.
Hier ein Restaurant zu eröffnen, war eigentlich nicht meine Idee. Eine Freundin brachte mich darauf. Wir hatten zusammen in der Schule das Mittagessen und auch ab und zu für unseren Freundeskreis gekocht. Da sagte sie irgendwann: »So gut, wie du kochen kannst, das müssen einfach alle erfahren! Du musst ein Restaurant aufmachen!«
LAVENDELZEIT 2011 habe ich eröffnet. Seitdem überrasche ich mich selbst immer wieder mit meinen Gerichten. Ich gehe auf den Markt, schaue, was gerade Saison hat, und lasse mich inspirieren. Gibt es Zwetschgen, fülle ich sie gerne mit Fleisch, überbacken mit einer Zimt-Rotweinsauce. Ist Lavendelzeit, bereite ich Hähnchenbrust zu, kurz paniert, dann in Honiglavendelbutter gewendet, dann noch einmal paniert, bis es karamellisiert. Zum Nachtisch serviere ich Pistazienteig mit Schokolade auf Orangen, die ein paar Tage in Granatapfelsirup, Chili, ganzem Pfeffer, Sternanis und Nelken eingelegt waren. Beim Kochen richte ich mich vor allem nach meiner Nase.
Wenn ich Zeit habe, fahre ich gerne zu einem Formel-Eins-Rennen.
Wenn die Zeit es zulässt, fahre ich gerne zu einem Formel-Eins-Rennen oder spiele mit Nürnbergern Schafskopf. Habe ich küchenfrei, besuche ich hin und wieder Veranstaltungen der Israelitischen Kultusgemeinde. Religiöses interessiert mich dabei weniger. Geht es um etwas Politisches oder um Antisemitismus, gehe ich hin.
Anfang des Jahres habe ich ziemlich erschreckende E-Mails bekommen, in denen ich, weil ich Jüdin bin, schlimm beschimpft wurde. Das nimmt man dann natürlich persönlich. Doch am Ende geben mir die Menschen hier viel. Mehr, als sie mir nehmen.
Aufgezeichnet von Katrin Diehl