Ich wurde in Moskau geboren. 1995, als ich sieben Jahre alt war, bin ich mit meiner Familie nach Frankfurt gekommen. Ich hatte eine sehr gute Freundin in Russland. Sie ist nicht jüdisch, und ihre Eltern sind latent antisemitisch. Sie ist noch immer meine beste Freundin. Damals fand ich es furchtbar traurig, dass ich in ein anderes Land gehe. Ich habe das gar nicht so richtig verstanden. Wir sind viel gereist, schon, als ich klein war. Deswegen habe ich auch verstanden, dass es ein anderes Land ist. Aber ich begriff nicht, was es bedeutet, dort hinzuziehen.
Meine Mutter hat zudem ein seltsames Gespräch mit mir angefangen, als ich sechs oder sieben war. Sie sagte, dass wir jüdisch sind und dass das der Grund ist, warum wir nach Deutschland ziehen. Dann hat sie angefangen, von der Schoa zu sprechen und dass wir jetzt genau dorthin auswandern. Bei mir blieb hängen, dass es ganz furchtbar sein muss und ich auf keinen Fall nach Deutschland ziehen will. Es war nicht so glücklich formuliert von ihrer Seite.
Im Nachhinein bin ich sehr froh, dass wir nach Deutschland gezogen sind. Und dass ich heute nicht in Russland lebe, auch wenn ich dort immer noch oft und gerne bin. Einmal in Jahr reise ich nach Russland. Wir haben auch noch eine Datscha bei Moskau. Angesichts der politischen Lage würde ich aber nicht gerne dort leben.
Meine Eltern haben mir nicht viel Jüdisches mitgegeben. Das war oft so in der Sowjetunion.
In meiner Familie haben alle Kunst studiert. In Russland ist Hochschulbildung alles. Meine Großmutter war an der Surikow-Akademie in Moskau und hat dort sehr akademisch gezeichnet. Monatelang hat sie den Arm einer Statue gezeichnet. Das sehr Akademische ist ein Teil der Identität meiner Eltern – die Vorstellung vom Künstler als einem richtigen Beruf, dessen Handwerk an einer Akademie erlernt wird. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Idee meiner Eltern sehr von der westlichen oder westeuropäischen Kunst. Sie sind zwar sehr offen, aber ganz anders geprägt.
Meine Mutter hat, wie schon ihre Mutter, Malerei studiert. Mein Vater lernte Angewandte Grafik. Er hat erst an seiner Hochschule unterrichtet. Später gestaltete mein Vater große Restaurants und Hotels als Innenarchitekt und Designer. Er macht keinen großen Unterschied zwischen Bildender Kunst, Design und Fotografie. Meine Mutter und meine Großmutter haben in Moskau große Wandmalereien geschaffen. Und meine Großmutter hat im Kursker Bahnhof in Moskau die Glasfenster gestaltet.
BRUCH In Deutschland mussten sich meine Eltern beruflich umorientieren. Hier gibt es keine große Nachfrage nach Wandmalereien oder Glasfenstern. Sie haben beide eine Umschulung zum Werbegrafiker gemacht. Mein Vater arbeitet seit 20 Jahren bei einer Agentur, die Webdesign und Interfaces macht. In seiner Freizeit fotografiert er. Meine Mutter malt und gibt private Mal- und Zeichenkurse. Meine Großmutter lebt auch hier in Frankfurt. Sie malt weiterhin.
Meine Eltern haben mich, wie sehr viele, vor allem jüdische, Migranteneltern, dazu gezwungen, nur Bestnoten in der Schule zu haben. Ich habe ein 1,3-Abitur gemacht, um dann Kunst zu studieren. Meine Eltern haben nicht so richtig verstanden, dass die Abiturnote in Deutschland zumindest für das Kunststudium nicht so relevant ist.
Ich habe in Mainz mit dem Studium angefangen. Dort gibt es eine Basisklasse, wo erst einmal alle hinkommen. Danach entscheidet man sich für eine Fachklasse, also etwa Malerei, Bildhauerei oder Medienkunst. Ich fand diese einjährige Orientierungsklasse sehr gut, da man alles ausprobieren kann. Das unterscheidet sich sehr stark von dem, wie meine Eltern Kunst gelernt haben. Die meisten Künstler heutzutage zeichnen oder malen nicht mehr. Deswegen braucht man es nicht unbedingt zu lernen.
Ich bin dann an die Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) gegangen, weil ich damals noch gegenständlich gemalt habe. Leipzig war dafür meiner Ansicht nach die beste Schule. Als ich dorthin gezogen bin, habe ich aufgehört, figurativ zu malen. 2015 habe ich in Leipzig Diplom gemacht. Danach war ich zwei Jahre Meisterschülerin bei Heribert C. Ottersbach. Heute pendle ich als freie Künstlerin zwischen Frankfurt und Leipzig.
BILDERVERBOT Es gibt diesen schrecklichen Begriff »abstrakte Kunst«, den ich eigentlich meide. Aber wahrscheinlich ist das der passende Begriff für das, was ich künstlerisch mache. Meine Malerei ist abstrakt und gegenständlich zugleich. Eine Freundin sagte einmal, es gehe in meiner Kunst um die Darstellung des Undarstellbaren. Das ist vielleicht das Jüdische an meiner Arbeit. Das Bilderverbot hat mich immer sehr interessiert. Einerseits bin ich von der jüdischen Kultur geprägt, andererseits bin ich in Russland geboren. Die russisch-orthodoxe Religion hat eine ganz starke Bilderverehrung. Ich finde beides sehr interessant.
Eine Freundin sagte einmal, es gehe in meiner Kunst um die Darstellung des Undarstellbaren.
Wenn man Bilder verbietet, sagt man ja auch, dass sie eine unglaubliche Kraft haben. An der HGB Leipzig muss man auch eine theoretische Diplomarbeit schreiben. Meine habe ich über Fetischismus geschrieben. Da ging es um Bilder, Bilderverbote, Bilderverehrung. Ich schwanke zwischen den Polen.
Ich habe aber auch die Vorstellung, dass ich ein Bild kreieren kann, das zwischen Repräsentation und Nichtrepräsentation angesiedelt ist. Ich entwickle meine Bilder prozesshaft auf der Leinwand, also ohne Motiv und Vorzeichnung. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass sich im Malprozess einzelne Gegenstände ergeben.
PARTNER Meine Eltern haben mir nicht viel Jüdisches mitgegeben. Das war oft so in der Sowjetunion. Meine Großmutter ist jüdisch, und ihre Familie war jüdisch. Sie haben auch noch Jiddisch gesprochen. Es ist aber alles verloren gegangen. Ich habe nichts davon mitbekommen, was ich im Nachhinein traurig finde. Bei meinem Freund, der aus einer jüdisch-ukrainischen Familie kommt, ist das auch so.
Ich wollte nie einen Russen daten und auch keinen Juden. Ich wollte das nie zu einem Kriterium meines Liebeslebens machen. Aber so ist es dann doch geworden. Dima und ich haben verstanden: Wenn wir Kinder haben sollten, würden wir ihnen jüdische Namen geben und wenigstens ein paar jüdische Traditionen beibringen. Sie können das ja immer noch ablegen. Da ich nicht so stark die Chance hatte, etwas davon abzubekommen, würde ich das zumindest meinen Kindern gerne geben.
Ich wollte Herkunft nie zu einem Kriterium meines Liebeslebens machen. Aber so ist es dann doch geworden.
Ich lege generell sehr viel Wert auf Rituale, in Freude wie in Trauer. Ich hatte einen Todesfall in meiner Familie vor einigen Jahren. Da habe ich bemerkt, dass Rituale, wie zum Beispiel das Schiwa-Sitzen, unglaublich hilfreich sind und viel Halt geben. Ich habe verstanden, wo sie nützlich sein können, auch wenn man sie vorher nicht kannte. Das würde ich auf jeden Fall meinen Kindern weitergeben. Vielleicht würde ich sie auf eine jüdische Schule schicken, einfach nur, weil diese Institution es mir erleichtern würde, ihnen jüdisches Leben nahezubringen.
Was ich an meinem Frankfurter Gymnasium geschätzt habe, war, dass viele Schüler Migranten waren, und zwar aus allen Ländern – nicht nur Russen und Juden, sondern auch Muslime. Jede Nationalität war vertreten. Das hat mich sehr geprägt und zu einem weltoffeneren Menschen gemacht. Das würde ich meinen Kindern auch gönnen, weil mir das sehr wichtig ist.
SPEKTRUM Von September bis Dezember 2018 hatte ich ein Atelierstipendium in Columbus, Ohio. Dort konnte ich malen. Das Stipendium wurde von der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen gefördert. Ich habe in Sachsen studiert, und die Eltern meines Partners leben dort.
Ich bin sehr oft in Leipzig, mein künstlerisches Netzwerk ist dort. In den USA habe ich ein Paar kennengelernt. Er war auch russischer Jude, aber seine Großeltern sind schon nach Amerika gezogen. Er hat gar kein Russisch mehr gesprochen. Seine Freundin ist für ihn zum Judentum konvertiert. Sie haben geheiratet, und es war sehr schön. Ich war beim Aufruf in der Synagoge. In Columbus gibt es fünf oder sechs Synagogen. Die Stadt ist in etwa so groß wie Frankfurt. Die Synagogen in Columbus reichen im Spektrum von sehr orthodox bis sehr liberal. Das finde ich gut, denn man kann sich aussuchen, was besser zu einem passt.
In Deutschland zu sagen »Ich bin jüdisch«, ist für mich immer mit irgendetwas behaftet. Es gibt mir ein seltsames Gefühl. Man kann nicht einfach so sagen: »Ich bin jüdisch.« In den USA habe ich ständig gesagt »I am Jewish«, und alle entgegneten: »Ah ja, okay.« Es ist kein besonderes Gesprächsthema.
Aufgezeichnet von Eugen El