Jom Haschoa

»Ich kann nicht vergessen«

Es ist eine Zäsur, die kommen wird und die sich nicht hinauszögern lässt: die Zeit ohne die Zeitzeugen des schlimmsten Verbrechens der Menschheitsgeschichte, der Schoa. »Diese Zeitzeugen sind es, die die Erinnerung in einer Weise wachhalten, wie es Bücher, Zeitungsartikel und Erzählungen aus zweiter oder dritter Hand nie schaffen können«, weiß IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch. »Und diese Menschen sind es auch, die die Lehren, die aus der Geschichte gezogen werden müssen und unsere rechtsstaatlichen Grundwerte so wichtig erscheinen lassen, überzeugend vermitteln können.«

Warum das so ist, wurde in der vergangenen Woche am Jom Haschoa in der Synagoge am Jakobsplatz deutlich. Mehr als sieben Jahrzehnte sind seit dem Aufstand im Warschauer Ghetto und der Befreiung der Konzentrationslager vergangen. In Person des fast 90-jährigen Abba Naor, der die Gedenkrede hielt, war die Vergangenheit jedoch in eindringlicher Form präsent. Er hat ein Ghetto (Kaunas) erlebt, überlebt, auch das KZ Stutthof und die berüchtigten Dachauer Außenlager Utting und Kaufering. Ein großer Teil seiner Familie nicht.

emotional An der Gedenkstunde, die sich vor allem an die Mitglieder der IKG richtete, nahmen auch zwei Personen teil, die Freunde der jüdischen Gemeinde sind, dies oft zum Ausdruck gebracht haben und sich auch mit Abba Naor emotional verbunden fühlen: Barbara Distel, bis zum Jahr 2008 fast 30 Jahre lang die Leiterin der Gedenkstätte Dachau, und der ehemalige Gautinger Bürgermeister Ekkehard Knobloch, auf dessen Initiative hin 1989 ein Mahnmal zur Erinnerung an die Todesmärsche errichtet wurde. Auch Abba Naor nahm daran teil.

Als Abba Naor in der Synagoge an das Pult tritt, war ein Psalm, gesungen vom Chor »Schma Kaulenu«, gerade verklungen. Zuvor hatte der Chor des Jugendzentrums »Neshama« Lieder gesungen und Rezitationen vorgetragen. »Ist es möglich, zu vergessen, was man als 13-Jähriger erlebt hat?«, fragte Naor. Er stellte die Frage bewusst in den Raum – und lieferte nach einigen Momenten die Antwort: »Wir wurden physisch befreit, aber seelisch sind wir nicht befreit worden. Ich kann nicht vergessen.«

Als Zeitzeuge tritt Abba Naor seit mehr als 20 Jahren in Schulen und Universitäten auf, er hat einen deutsch-israelischen Schüleraustausch initiiert, ist Repräsentant Israels im Internationalen Dachau-Komitee und hat sein Leben in dem Buch Ich sang für die SS (C.H. Beck) beschrieben. Für sein Engagement, das die Verständigung zur Grundlage hat, hat ihm Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer das Bundesverdienstkreuz verliehen.

Grauen Am 2. Mai 1945 wurde Naor befreit. Zu diesem Zeitpunkt ist er erst 17 Jahre alt und weiß doch schon mehr vom Tod, von Verzweiflung und menschlicher Brutalität als die kampferprobten US-Truppen. Wenig später findet er seinen Vater wieder, der das Grauen überlebt hat, aber eine Rückkehr in die Heimat Litauen ist indiskutabel. In seinem Buch schreibt Naor: »Ich habe einmal den litauischen Botschafter gefragt: Wir waren doch alle Litauer, standen auf, wenn die Nationalhymne gespielt wurde. Mein Vater war Soldat und hat für Litauen gekämpft. Warum habt ihr uns verfolgt und ermordet? Er gab mir keine Antwort und schwieg.«

In der Gedenkstunde in der Synagoge erinnerte sich Naor an seine Kindheit in Litauen. »In der Schule wurde Hebräisch unterrichtet, es gab jüdisches Theater, jüdische Organisationen, ein jüdisches Krankenhaus«, sagte er nachdenklich. »Wir waren frei. Dann von einem Tag auf den anderen begann der Mord an der jüdischen Bevölkerung, von einem Tag auf den anderen wurden unsere litauischen Nachbarn unsere Mörder.«

Nach dem Krieg, nach den Nazis, begann der Schoa-Überlebende, der heute wechselweise in München und Tel Aviv lebt, in Israel ein neues Leben, weit weg von den Orten der schrecklichen Erinnerungen. 1947 kam er dort an, ruhig wurde es nicht. Der einstige Ghetto-Junge, der Nachrichten für den Widerstand transportierte und der NS-Zeit durch Zufall lebend entkam, folgte seinen Überzeugungen. Er kämpfte 1948 als Soldat im Unabhängigkeitskrieg, wurde danach Agent des Mossad und war in den 80er-Jahren an der Rettung der äthiopischen Juden beteiligt.

Wunden Abba Naor könnte viele Episoden erzählen, die ihm bei Zuhörern den Glanz eines Helden verleihen würden, doch bei der Gedenkstunde in der Synagoge berichtete er von der Schoa und seinem Überleben. »Mein Hass ist vergangen. Und auch das Gefühl von Schuld, überlebt zu haben. Doch die Zeit heilt keine Wunden.« Deshalb hatte er nach dem Krieg auch darauf verzichtet, die sogenannte Wiedergutmachung des Staates anzunehmen. Schon das Wort »Wiedergutmachung« erregt seinen Unmut: »6000 Mark für meine geraubte Kindheit, für meine Mutter und meine Brüder? Niemand kann wiedergutmachen, was die Nazis mir angetan haben!«

Wiedergutmachung sind für ihn Gespräche mit Schülern – und die Briefe, die er von ihnen bekommt, die ihm das Gefühl geben, etwas bewirkt zu haben. Der Brief von einem Schüler namens Robert geht ihm besonders nahe. Dieser schrieb ihm einmal: »Sie verwandelten meine Scham, die ich als Deutscher im Zusammenhang mit der Schoa empfinde, in das Erstaunen darüber, wie jemand, der so viel Leid ertragen musste, so unvoreingenommen und freundschaftlich der Jugend seines ehemaligen Peinigervolkes gegenüber eingestellt sein kann.«

Das Trauergebet El Male Rachamim, vorgetragen von Rabbiner Shmuel Aharon Brodman, galt dem Anlass entsprechend den Toten. Die Zukunft trägt Abba Noar, nur einen Griff entfernt, in seiner Brieftasche stets mit sich herum: Fotos seiner Familie. Für ihn ist sie ein unermesslicher Schatz: »Zwei Kinder, fünf Enkel, sechs Urenkel. Sie sind mein ganz persönlicher Sieg über die Nazis.«

Frankfurt/Main

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