Schon als Teenager hat mich Musik von überallher fasziniert. In den 60er-Jahren habe ich Weltmusik gemacht, bevor es diese Kategorie überhaupt gab. Das hängt auch mit meiner multikulturellen und stark von Migration und Reisen geprägten Biografie zusammen.
Geboren wurde ich 1949 in den USA. Meine Mutter kam aus Berlin, mein Vater aus Mailand. Kennengelernt hatten sie sich aber ganz woanders: in Teheran. Dorthin wurde mein Vater Mitte der 30er-Jahre eingeladen, um als Ingenieur dazu beizutragen, das Land zu modernisieren.
Team Zeitgleich arbeitete meine Mutter als Sekretärin bei der Bank Melli, der iranischen Nationalbank – und ihr Bruder war im selben Team wie mein Vater. Um 1936 sind meine Eltern dann nach Italien gegangen. Dort haben sie geheiratet, und mein Vater bekam eine Anstellung bei Agip in Bari. Doch dann übte Hitler Druck auf Mussolini aus, sodass mein Vater in diesem antisemitischen Klima von einem Tag auf den anderen seine Arbeit verlor.
Die Familie in Mailand war wohlhabend und assimiliert, gehörte zum gebildeten Bürgertum mit guten Verbindungen. Mutter war inzwischen schwanger mit meiner Schwester Giannina – von der Familie wurden meine Eltern zur Emigration gedrängt. Sie stellten Visaanträge für Argentinien, Uruguay und die USA – Hauptsache raus.
Meine Eltern emigrierten in letzter Minute aus Mussolinis Italien.
Mit Glück kamen meine Eltern dann in die USA. Zwar wurden damals kaum noch jüdische Immigranten ins Land gelassen, doch über persönliche Kontakte gelang es ihnen, einen Sponsor zu finden. Es war die Tochter von Mark Twain, eine Sopranistin namens Clara Clemens Gabrilowitsch, die zu den vielen musikalischen Freunden meiner Mailänder Großeltern gehörte. Die Emigration meiner Eltern ist Thema meines Songs »Leavin Home«, den ich knapp 60 Jahre später auf dem Album Home mit Songs über Flucht, Migration und Exil veröffentlicht habe.
Wie viele bürgerliche deutsche Juden dachten meine Berliner Großeltern, ihnen kann im Land von Schiller und Goethe nichts passieren. Sie verließen sich auch auf das eigene berufliche und persönliche Netzwerk. Sie blieben noch sehr, sehr lange in Berlin – und das, obwohl mein Großvater nicht mehr als Gefängnisarzt und Psychiater praktizieren durfte. Außerdem waren sie aus ihrem schönen Haus in der Nähe des Tiergartens vertrieben worden.
FAMILIE 1939 sind meine Großeltern dann über Malmö, Helsinki, St. Petersburg und von dort mit der transsibirischen Eisenbahn nach Wladiwostok geflohen. Per Schiff gelangten sie über Japan nach Vancouver und anschließend nach Chicago. Dort fing mein Großvater auf seine alten Tage wieder an, als Arzt zu arbeiten. Im vergangenen Jahr habe ich in Berlin Stolpersteine verlegen lassen, damit nicht vergessen wird, dass Dr. Friedrich Leppmann, Agnes Schlockow-Leppmann und ihre vier Kinder aus ihrem Zuhause vertrieben worden sind.
Meine Großmutter überlebte als Nonne verkleidet in einem katholischen Kloster.
Andere Familienmitglieder wie mein Onkel Wolfgang haben es nicht geschafft und sind in Auschwitz ermordet worden. Mein Mailänder Großvater nahm sich auf der Rückkehr von einem missglückten Fluchtversuch in die Schweiz das Leben, am Tiefpunkt des Krieges 1943, als die deutsche Wehrmacht in Italien einmarschierte. Meine Großmutter überlebte als Nonne verkleidet in einem katholischen Kloster. Noch heute habe ich viele Verwandte in Italien.
Meine Eltern lebten mittlerweile in Chicago, wo das Jewish Welfare Bureau ihnen einen Job in einer Maschinenfabrik in Michigan vermittelt hatte – in einer Kleinstadt namens Holland, die fast ausschließlich von niederländischstämmigen Calvinisten bewohnt war. Es gab dort keine dunkelhäutigen Menschen und nur zwei weitere jüdische Familien – keinen Minjan, keine Synagoge. Ohnehin haben sich meine Eltern später in einer der lokalen christlichen Gemeinden engagiert, wo mein Vater, der auch sechs Sprachen beherrschte, sofort als Chorleiter und Organist anfing.
ZUPFGEIGENHANSEL Zur Musik kam ich über meine Eltern. Mein Vater hat mir nicht nur die italienische Sprache, Kunstgeschichte und europäische klassische Musik erklärt, sondern mir im Alter von sieben Jahren auch Klavierstunden gegeben. Dazu kam, dass meine Mutter das Bügeln für eine neunköpfige Familie hasste und mich immerzu aufgefordert hat, sie am Klavier zu unterhalten – »Billy, why don’t you play some music?« Dann habe ich meistens meine eigenen musikalischen Fantasien gespielt sowie manche ihrer Lieblingsmelodien aus dem »Zupfgeigenhansel«.
Damals hörte man bei uns zu Hause einen echten Mischmasch von musikalischen Einflüssen: Opern, Hillbilly, Symphonien, Rock’n’Roll, Folk und Popmusik. Meine sechs Geschwister waren übrigens nicht so musikalisch wie ich, sie interessierten sich eher für das, was als typisch amerikanisch galt: Fußball, Jagen, Motorräder, Ausgehen. Ich aber spielte lieber Musik und wühlte mich durch die Kunstbücher meiner Eltern.
Ich galt als der »Typ mit den komischen Instrumenten«. Ob indonesische Flöte, tibetanische Trompete oder ugandische Pauke – ich spiele sie alle.
Holland, Michigan war klein und beengend, in der Bücherei hatte ich jedoch eine tolle Sammlung mit Schallplatten ethnografischer Musik aus aller Welt entdeckt. Gleichzeitig habe ich Musiker wie Leadbelly, Woody Guthrie und auch Bob Dylan kennengelernt. Für mich war das alles sehr inspirierend.
REPERTOIRE Im Alter von 14 Jahren bin zum ersten Mal auf Tournee gegangen. Als Bandleader der »Young-Uns« waren wir nicht nur in Michigan bekannt, wo wir sogar schulfrei für unsere Reisen bekommen haben. Nach der Highschool sind dann alle Bandmitglieder ihrer Wege gegangen, und ich bin erst einmal herumgereist – was ich seitdem gerne und viel mache. Im Laufe meines Lebens war ich in Tamil Nadu, Tunis oder Teheran. dort habe ich mich von der lokalen Musik inspirieren lassen. In den 70er-Jahren machte ich drei lange Reisen nach Indien, wo ich mit Ravi Shankar und anderen, weniger bekannten Musikgurus studierte.
Mit dem Trio »Eclectricity« kam ich in den 80er-Jahren ebenfalls viel herum. Wir standen mit Künstlern wie Joan Baez, Paul Simon und Pete Seeger auf der Bühne. Wir haben viele Konzerte mit dem legendären jüdischen Sänger und Schauspieler Theodore Bikel gespielt sowie »Niggunim« mit Reb Schlomo Carlebach und Reb Zalman Schachter-Schalomi im Tonstudio aufgenommen. Später habe ich in Chicago zwölf Jahre lang Theatermusik gemacht.
Viele der erfolgreichen Shows, für die ich die Musik komponiert hatte, begleitete ich auch live, zum Beispiel in Los Angeles, London und dreimal am Broadway in New York. Damals habe ich auch als Keyboarder für Tom Waits’ Welttournee gearbeitet. Ich galt als der »Typ mit den komischen Instrumenten«. Ob eine indonesische Flöte, eine tibetanische Trompete oder eine ugandische Pauke – ich konnte diese Instrumente nicht nur besorgen, sondern auch im passenden Stil spielen.
Für jeden Aufritt studiere ich ein neues Stück ein.
Im Laufe der Jahre habe ich dann auch mein Programm »Jewish Music Around the World« entwickelt. Mit diesem Repertoire, das jüdische Musik aus der gesamten Welt präsentiert, trete ich regelmäßig auf. So auch in Bremen, wohin ich vor fast 20 Jahren wegen meiner Frau gezogen bin.
Für jeden Aufritt studiere ich ein neues Stück ein. Beim letzten Mal fiel die Wahl auf ein Lied der Aba Judaja, einer kleinen Gruppe aus Uganda, die im frühen 19. Jahrhundert en masse zum Judentum konvertiert war. Diesen Song habe ich, wie bei den Aba Judaja üblich, mit einer Akustikgitarre gespielt.
Jewish Music Around the World habe ich 2004 als Album veröffentlicht. Die 14 Songs stammen aus Usbekistan, Irland, Syrien, Italien, dem Iran oder den USA. Auch Deutschland ist vertreten, allerdings mit dem Song »Als ob«, dessen Text vom österreichischer Kabarettisten und Dramaturgen Leo Strauss geschrieben worden ist. Strauss war nach Theresienstadt deportiert worden, 1944 wurde er in Auschwitz ermordet.
Die Musik zu »Als ob« habe ich im Stil von »The Ghetto Swingers« komponiert. Das war eine Roma-Musikgruppe, die im Kabarett von Theresienstadt aufgetreten ist und sogar kurz in dem berühmt-berüchtigten Nazi-Propagandafilm zu sehen ist, der gedreht worden war, um die angeblich guten Lebensverhältnisse in diesem Konzentrationslager darzustellen und die NS-Vernichtungspolitik zu verschleiern.
MASENKO Ein anderer Beitrag auf meiner CD basiert auf einem Stück von Shalom Shabazi, der im 17. Jahrhundert im jemenitischen Sanaa religiöse und mystische Songs auf Hebräisch, Arabisch und Aramäisch komponiert hat und noch heute als einer der größten Poeten des Landes gilt. Der Song »Na Habeya« aus Äthiopien hingegen wird von den Beta Israel, äthiopischen Juden, bei der Neujahrszeremonie gesungen.
Er wird begleitet von einer Masenko. Diese einsaitige Geige wurde, so erzählt es der Song, von König David höchstpersönlich gespielt. »König David, König Israels, Autor der Psalme, Spieler der Masenko«, heißt es in dem Stück.
Ich liebe es, immer wieder neue Musik zu entdecken, egal, woher sie kommt.
Ich liebe es, aus diesem vielfältigen Repertoire zu schöpfen und immer wieder neue Musik zu entdecken, egal, woher sie kommt. Inzwischen bin ich fast 70 Jahre alt und noch immer viel unterwegs. Aktuell packe ich meinen Koffer für eine kurze Reise nach Indien. Dort präsentiere ich beim Goethe-Institut in Chennai einen deutsch-indischen Stummfilm aus dem Jahr 1925, für den ich die Musik komponiert habe.
Es gibt eine jiddische Weisheit: »Wenn Glück im Spiel einsteigt, gewinnt die Klugheit Doppelpunkte.« In meinem Leben hatte ich immer viel Glück!
Aufgezeichnet von Till Schmidt