Ein Jahr, nachdem meine Eltern von Kiew nach Hannover umgezogen waren, kam ich zur Welt. Das war im Jahr 1994. Meine Eltern wussten immer, dass sie jüdisch waren, aber über die jüdische Tradition haben sie vieles erst hier gelernt. Man kannte Chanukka und Pessach und wusste, was Mazza ist, aber wirkliches Wissen über das Judentum hatten sie nicht. Das war bei den meisten Juden in der damaligen Sowjetunion so. Nachdem sie sich nach ihrer Ankunft bei der Jüdischen Gemeinde angemeldet hatten, haben sie sich intensiver damit beschäftigt, und über die Jahre sind sie relativ religiös geworden.
Schon von Kindesbeinen an lernte ich von meinen Eltern, mein Jüdischsein nicht zu verstecken. Ich habe später bei anderen jüdischen Kindern mitbekommen, dass es bei denen nicht so war, sie sollten es nämlich gerade nicht sagen.
grundschule In der Grundschule hatte ich deswegen keine Schwierigkeiten, aber ich habe an vielen kleineren Dingen gemerkt, dass ich aus einer anderen Kultur komme und zu Hause nicht die gleichen Lieder höre, nicht die gleichen Bücher lese. In den Einträgen der Freundschaftsbücher konnte man sehen, dass alle die Lieder von Rolf Zuckowski gehört haben. Ich aber hatte keine Ahnung, wer das war. Sie haben zu Weihnachten Geschenke bekommen und feierten Ostern.
Es gab ein muslimisches Mädchen in der Klasse, das war in derselben Lage wie ich. In der Grundschule hatten wir beide immer frei, wenn die anderen Religionsunterricht hatten. Erst im Gymnasium wurde alternativ Werte-Norm-Unterricht angeboten und ab der 10. Klasse sogar Philosophie.
Früher hatte ich keine jüdischen Freunde. Das änderte sich erst, als ich Madricha wurde.
Als ich neun oder zehn Jahre alt war, bin ich in Hannover einmal ins Jüdische Jugendzentrum gegangen und so zum ersten Mal mit anderen jüdischen Kindern in Kontakt gekommen. Ich hatte damals allerdings das Gefühl, dass es dort eine starke Clique gab, zu der ich nicht gehörte. In dieser Zeit hatte ich sehr viel mehr nichtjüdische deutsche Freunde.
Auf dem Gymnasium hat es dann plötzlich viele interessiert, dass ich jüdisch bin. Es gab aber auch unterschwellige Kommentare, wenngleich die nicht unbedingt in meine Richtung gingen. Wenn zum Beispiel jemand einen anderen beleidigen wollte, dann fiel oft »Du Jude!«. Oder wenn man einen Alkohol-Shot auf einer Party servierte, hieß es: »Ex oder Jude!?«. Entweder schaffte man es, den Shot auf ex zu trinken, oder man war ein Versager, und dafür stand eben »der Jude«.
BATMIZWA Als ich in Vorbereitung auf meine Batmizwa die hebräischen Buchstaben lernte, war das plötzlich für mich etwas ganz Besonderes. Und als ich dann an meiner Batmizwa vorlesen durfte, hat das in mir unglaubliche Emotionen ausgelöst. Seit dieser Zeit habe ich mich sehr viel mehr als zuvor mit dem Judentum beschäftigt. Vorbereitet hatte ich mich darauf anfangs noch bei der Liberalen Gemeinde in Hannover, die Batmizwa selbst habe ich aber bei Chabad gemacht. Meine Mutter hatte nämlich zwischenzeitlich von einer Freundin erfahren, dass ein Chabad-Zentrum aufgemacht hat und es auch einen Kinderklub gibt. Dort ging sie mit meinem kleinen Bruder hin.
Auf dem Gymnasium gab es unterschwellige beleidigende Kommentare, wenngleich sie nicht unbedingt in meine Richtung gingen.
Ich hingegen hatte auch nach der Batmizwa noch nicht viele Berührungspunkte mit Juden, weil ich eher selten an den Schabbatot in die Synagoge ging und nicht regelmäßig ins Jugendzentrum.
Ich hatte auch deshalb keine jüdischen Freunde, weil ich als Kind nicht auf Machane war.
Erst mit 18 Jahren habe ich die Praktikantenseminare mitgemacht und war dann als Madricha zum ersten Mal dabei. Das hat sich daraus ergeben, dass das Jugendzentrum in Hannover irgendwann zugemacht hat, und es wurde der Frau des Chabad-Rabbiners angeboten, die Organisation zu übernehmen. Sie zögerte erst, weil sie meinte, dass es nicht in die Chabad-Philosophie passte. Als sie die Leitung dann inoffiziell doch übernommen hatte, suchte sie nach Leuten, die das Jugendzentrum wieder mit aufbauen. So kam sie auch auf mich zu.
Während eines Freiwilligen Sozialen Jahres (FSJ) habe ich dann an den Praktikantenseminaren teilgenommen und dort erlebt, dass es ja ganz verschiedene jüdische Menschen gibt, die sehr unterschiedliche Erfahrungen mitbringen.
Ich habe mitbekommen, dass die meisten von ihnen Freunde in vielen Städten hatten. Und mir fiel auf, dass ich nur sehr wenige jüdische Lieder kannte. Ich habe diejenigen bewundert, die das Birkat Hamason auswendig konnten.
SELBSTBILD Trotzdem hab ich mich ganz gut hineingefunden und dabei festgestellt, dass es eigentlich sehr schnell geht, in jüdischen Kreisen Freundschaften aufzubauen. Bei nichtjüdischen Mitschülern hat das oft viel länger gedauert, aber bei den Machanot wusste jeder, dass man nur zwei Wochen Zeit dafür hat. Danach wurde man sonstwohin zu Geburtstagen eingeladen.
Das war für mich etwas ganz Neues, und es hat in meinem jüdischen Selbstbild sehr viel verändert. Als ich früher mit antisemitischen Äußerungen und Gedanken von Mitschülern konfrontiert war, dachte ich zeitweise, dass ich es künftig vielleicht besser für mich behalten sollte, dass ich jüdisch bin.
Nun aber sah ich, was die jüdischen Kontakte einem an Selbstsicherheit zu geben in der Lage waren. Inzwischen hätte ich auch kein Problem mehr damit, mit einem Magen David um den Hals herumzulaufen.
Kurz bevor ich zu Hause auszog, begannen meine Eltern, auf koschere Ernährung zu achten.
Meine Eltern gingen nun immer häufiger zu Chabad. Sie fingen sogar an, auf koschere Ernährung zu achten. Plötzlich wurden die Brachot gesagt, wurde nach dem Essen das Birkat Hamason gesprochen und an den Fastentagen richtig gefastet. Mein Vater betet mittlerweile auch dreimal am Tag.
Diese Entwicklung setzte bei meinen Eltern allerdings erst vor etwa sieben Jahren ein, kurz bevor ich zu Hause auszog, um in Heidelberg Grundschulpädagogik zu studieren. Vorher hatte ich das FSJ in einem Heim für Jugendliche gemacht, die wegen verschiedener Probleme nicht mehr zu Hause wohnen konnten.
Dabei habe ich gemerkt, dass mir so etwas sehr liegt. Zeitweise habe ich sogar mit dem Gedanken gespielt, Sozialpädagogik zu studieren. Meine Eltern meinten aber, dass das Lehramt ein viel sichererer Beruf wäre. Also habe ich mich für das Studium der Grundschulpädagogik in Heidelberg entschieden. Mittlerweile habe ich das Erste Staatsexamen gemacht und befinde mich gerade mitten im Referendariat.
ENGAGEMENT Als ich nach Heidelberg kam, bin ich mit einer jüdischen Freundin, die zu Besuch war, am Freitagabend zum Gottesdienst gegangen. Dort traf ich auch einen Referenten von der Pädagogischen Hochschule: Er war Gemeindemitglied und hat mich auf den BJSB, den Bund jüdischer Studenten Baden, aufmerksam gemacht. Dort gab es eine Menge Freizeitangebote, und es wurde oft ein Studenten-Schabbat organisiert, was sehr schön war, weil immer sehr viele Teilnehmer kamen.
Nach einem Jahr wurde ich gefragt, ob ich Lust hätte, im Vorstand des BJSB mitzuarbeiten. Da der Vorstand nur aus drei Mitgliedern bestand, war ich dann auch gleich die Vizepräsidentin. Ich fand es schön, an den Freizeitangeboten für all die Studierenden mitzuarbeiten, um gemeinsam unser jüdisches Selbstbewusstsein zu stärken.
Können wir es uns leisten, politisch nicht aktiv zu sein? Diese Frage war Thema eines Workshops.
Als ich später Präsidentin wurde, haben wir einmal ein Wochenende in Karlsruhe organisiert, bei dem es um politischen Aktivismus von jüdischen Studierenden ging. Ich hatte nämlich mitbekommen, dass einige gern zu einer BDS-Veranstaltung gehen wollten, um zu verkünden, dass man das nicht in Ordnung findet, was dort propagiert wird. Andere wollten sich nicht als jüdisch outen in einer Umgebung, in der sie dafür angefeindet werden könnten.
Wir haben dann einen Workshop und eine Podiumsdiskussion zu der Frage organisiert, ob wir es uns leisten können, politisch nicht aktiv zu sein.
ISRAEL Ich bin mehrfach nach Israel gereist, aber nie allein. Schon im Kleinkindalter war ich mit meinen Eltern dort, bewusst jedoch zum ersten Mal auf Taglit direkt nach dem Abitur. Ich habe mich in Israel sofort zu Hause gefühlt und mich in dieses wunderschöne Land verliebt. Dafür ist Taglit ja auch eine echt tolle Gelegenheit.
Es hat mich sehr beeindruckt, wie man in Israel öffentlich das Judentum ausleben kann. Natürlich wusste ich das auch schon vorher, aber nun habe ich es selbst erlebt. An der Klagemauer zu stehen, war für mich ein sehr emotionaler Moment und eine wunderbare spirituelle Erfahrung.
Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg