Natürlich zittere ich dieser Tage für die deutsche Nationalmannschaft bei der Fußball-WM. Wenn sie spielen, trage ich sogar ein schwarz-rot-goldenes Käppi. Sonst bin ich ein Fan von Bayern München. Ich kann kein russisches Fußballteam als meine Lieblingsmannschaft bezeichnen, denn in Russland habe ich mich überhaupt nicht für Fußball interessiert. Aber meine Frau und ich, wir haben uns von Anfang an entschieden, kein russisches Fernsehen zu installieren. Und so sah ich mir eben die vielen Fußballspielübertragungen an, die mit meinen damals nicht allzu üppigen Deutschkenntnissen aber durchaus zu verstehen waren. Und so wurde ich zum Fan.
Radio Ansonsten lese ich viel, und das auf Russisch. Internetradio ist meine Informationsquelle für Nachrichten und politische Analysen. Ich höre den Münchner Sender Radio Swoboda, das unabhängige Moskauer Programm »Echo Moskwi« sowie »Reka«, das israelische Radio auf Russisch. Aber all das mache ich nach Feierabend. Zum Glück habe ich immer viel zu tun. Ein Leben ohne Arbeit kann ich mir nicht vorstellen.
Ich kam vor siebzehn Jahren von Moskau nach Fulda. In Russland war ich als leitender Ingenieur in der Bauaufsicht von unterirdischen Erdgasleitungen tätig. Ein Schreibtischtäter war ich nie, auch später nicht als leitender Angestellter. Wir hatten eine Wohnung am Stadtrand von Moskau. Dort wohnten meine Frau und unsere Tochter und ich, wenn ich nicht gerade unterwegs war: irgendwo zwischen Baltikum und Schwarzem Meer. Ins Ausland reisen durfte ich nicht, selbst die Länder des Warschauer Pakts waren tabu für mich. Als dann die Perestrojka kam, eröffneten sich mir plötzlich Gelegenheiten, nach Japan, China und Südkorea zu fahren, auf Dienstreise!
jobsuche Heute bin ich sesshafter. Ich versuche, hier in Fulda, wo auch unsere Tochter mit ihrer Familie lebt, Jobs zu finden. Leider kann ich nicht in meinem alten Beruf arbeiten, den vermisse ich wirklich. Als ich drei Jahre nach der Auswanderung das einzige Mal wieder in Moskau war, fuhr ich zu meiner alten Firma. Dort wurde gerade irgendwas gefeiert und der nächste Trinkspruch galt mir: »Auf unseren besten Mitarbeiter!« Das hat mir sehr gut getan, aber ich sollte den Ball etwas flacher halten.
In Deutschland habe ich mich in der Pipeline-Branche beworben. Aber ohne Erfolg. Ich war schon 57, als ich hierher kam, und kannte die Sprache viel zu wenig. Doch nur zu Hause zu sitzen war nichts für mich. So fing ich gleich nach dem Sprachkurs an, für einen Babynahrungsproduzenten zu arbeiten. Am Fließband. Als ich das Rentenalter erreichte, musste ich aufhören. Eine Zeitlang habe ich dann für eine Sicherheitsfirma in Frankfurt gearbeitet, aber die weite Entfernung gefiel mir nicht. Später war ich als Fahrer für eine große Wäscherei tätig, doch dieser Job war so schlecht bezahlt, dass meine Selbstachtung darunter litt. Ein Kollege vom Auslieferungsdienst gab mir den Tipp, bei einem Autohaus nachzufragen, einem Familienbetrieb. Ich hatte Erfolg und bin bis heute dort. Als Hausmeister.
Respekt Mein Tag beginnt um 8 Uhr. Eigentlich weiß ich selbst, was zu tun ist, welche Arbeit gerade ansteht. Es kommt aber auch vor, dass der Chef, seine Frau oder sein Sohn oder auch die Schwiegertochter mich um etwas bitten. Der Ton ist immer sehr respektvoll, so habe ich selbst auch Respekt vor der Leistung der Selbstständigen, besonders in diesen schwierigen Zeiten. Übrigens wird der Kaffee bei uns von der Chefin persönlich gekocht und den Mitarbeitern serviert.
Ich mache in der Firma alles, außer Autos zu reparieren und Elektroarbeiten. Von Zeit zu Zeit poliere ich die Fahrzeuge, das macht mir Spaß. Selbst habe ich kein Auto. Von unserer Zweizimmerwohnung kann ich sowohl meine Arbeitsstelle als auch die Wohnung meiner Tochter gut erreichen. Ihre zwei Söhne, bei deren Erziehung wir mitgeholfen haben, sind schon außer Haus. Neulich rief mich der Jüngste an und kündigte seinen Besuch mit der Freundin an. In einer Stunde! Er hat es so kurzfristig gemacht, dass wir uns nicht zu sehr mit Vorbereitungen bemühten. Doch gerade das machte meine Frau nervös! Für solche Situationen gibt es aber meine kulinarische »Königsdisziplin«: Blinchiki, hauchdünne zarte Pfannkuchen. Die schmecken so köstlich, dass man auf eine Füllung oder Soße verzichten kann, man schmaust sie einfach mit saurer Sahne.
Jüdischkeit Samstags gehe ich zur Synagoge. Schon paradox, dass ich in dieser erzkatholischen Stadt meine jüdische Heimat gefunden habe. Von der jährlichen Bischofskonferenz hier in Fulda kriege ich nicht viel mit, aber das Vorhandensein einer jüdischen Gemeinde ist sehr wichtig für mich. Ich denke, die Religiosität kam bei mir mit dem Alter. Unsere Gemeinde ist recht klein, soweit ich weiß, sind es 460 Mitglieder, alles sehr nett und familiär.
Es gibt hier viele interessante Aktivitäten für Junge und Alte, aber an den Wochentagen habe ich dafür keine Zeit und für die Sonntagsschule bin ich zu alt. Aber jeden Samstag gehe ich beten. Wir haben einen jungen und engagierten Vorsitzenden, Roman Melamed, der auch als Religions- und Hebräischlehrer tätig ist. Er selbst führt abwechselnd mit einem Rabbiner aus Kassel die Gottesdienste durch. Meistens werde ich am Schabbat zur Tora aufgerufen. Das ist ein wunderschönes erhabenes Gefühl, vor der Tora zu stehen. Ein Gebet im Minjan tut mir sehr gut – so werden die Gebete mit Sicherheit erhört. Unser Minjan ist eine Art Familie: Wir helfen uns gegenseitig, besuchen die Kranken. Für sie zu beten, ist bei uns ein Muss. Ich bin überzeugt, dass diese Gebete helfen. Mein Vater konnte mir keine Tradition vermitteln, denn er kam während des Holocaust im KZ um. Meine Mutter musste zwei Kinder allein großziehen. Wir waren sehr arm. Schon als 15-Jähriger ging ich arbeiten. Und kann mit 74 immer noch nicht damit aufhören!
Meer Aber wenn wir dann mal Urlaub machen, dann richtig. Ich versuche immer, dorthin zu fahren, wo es viel Wasser und wenige Menschen gibt. Auf den Kanarischen Inseln war das nicht der Fall. Auch nicht in Florida. Als wir unsere alten Freunde in Miami besuchten, kam, als ich im Meer badete, ein Mann auf mich zu und fragte auf Russisch, ob ich nicht Borja aus Gomel sei, und fragte mich, woher ich denn ursprünglich käme. Nein, so etwas ist überhaupt nichts für mich. Ich fühlte mich beinahe bedrängt.
Dafür wurde ich dann auf der Reise durch den Nationalpark bei Florida entschädigt: Wir fuhren in einem Boot – das ein echter Indianer steuerte! – auf einem Fluss, wo es von von Krokodilen nur so wimmelte. Wenigstens die kannten mich nicht!
Interessanterweise habe ich das Bedürfnis nach Abgeschiedenheit im Urlaub aber nicht in Israel. Die Menschenmengen auf den Plätzen von Tel Aviv und der mit tanzenden Menschen überfüllte Haifaer Strand bei Sonnenuntergang stören mich nicht. Ich fühle mich in Israel wie ein Fisch im Wasser. Meine Frau und ich, wir waren schon zwei Mal dort und möchten so oft wie möglich wieder hinfahren. Wenn es die Gesundheit erlaubt und es meinem Arbeitgeber weiterhin gut geht.
Aufgezeichnet von Irina Leytus