Porträt der Woche

»Ich bin ein Stadtmensch«

Svetlana Godina geht gern zu Fuß durch Frankfurt

von Canan Topçu  10.06.2013 18:29 Uhr

»Wie wäre ich wohl geworden, wenn ich nicht in der Ukraine, sondern in Frankfurt aufgewachsen wäre?«: Svetlana Godina (33) Foto: Judith König

Svetlana Godina geht gern zu Fuß durch Frankfurt

von Canan Topçu  10.06.2013 18:29 Uhr

Zu den regelmäßigen Abläufen in meinem Leben gehört, dass ich fünf Tage die Woche zur Arbeit gehe. Um neun Uhr beginnt mein Tag im Büro. Vorher trinke ich zu Hause ein paar Tassen Kaffee und frühstücke. Früher habe ich dabei im Internet gesurft und meine Mails gelesen, das mache ich aber nicht mehr. Jetzt beginne ich den Tag ruhiger, höre mal Radio oder schaue mir im Fernsehen die Nachrichten an.

Sehr oft höre ich Musik – zu Hause im Fernsehen und auf der Fahrt zur Arbeit auf russischen Radiosendern über die Internetverbindung meines Mobiltelefons. Meist sind es russische oder deutsche Songs. Amerikanische Musik ist nicht so mein Ding. Aber gern höre ich die französische Sängerin Zaz. Ich habe sie mal zufällig auf YouTube entdeckt und finde sie toll. Ihre Lieder machen mir gute Laune. Die Liebe zur europäischen Musik habe ich von meiner Mutter. Als ich klein war, bekam ich mit, wie sie Lieder von Dalida hörte.

Dalida war auch in der Ukraine bekannt. Dort wurde ich 1980 geboren. In Deutschland lebe ich seit meinem 19. Lebensjahr. Ich bin 1999 mit meinen Eltern und meiner Oma hierhergekommen. Zuerst sind wir mit dem Zug von Kiew nach Berlin gefahren, von da ließen wir uns mit einem Taxi zum Wohnheim nach Thüringen bringen. Wir hatten überhaupt keine Ahnung vom öffentlichen Verkehrssystem in Deutschland.

Das Wohnheim lag in einem 300-Seelen-Dorf im Eichsfeld. Ich stamme aus Krementschuk, einer 230.000-Einwohner-Stadt am Dnjepr. Manchmal vermisse ich diesen Ort meiner Kindheit. Aber ich weiß, es geht gar nicht um die Stadt selbst, sondern um die Zeit, die ich dort gelebt habe. An meinen Eltern und auch Bekannten, die aus der ehemaligen Sowjetunion kommen, stelle ich fest: Je weniger die Menschen integriert sind, desto mehr schwelgen sie in Nostalgie. Ich denke, die Sehnsucht nach dem Leben im Herkunftsland entsteht dann, wenn man zu viel Zeit zum Nachdenken hat.

wohnheim An unsere Ankunft und die erste Zeit in Deutschland erinnere ich mich gut – aber ungern: Ich wurde aus meinem Leben rausgerissen, musste vieles zurücklassen – auch meine Freunde – und fand mich plötzlich in einem Dorf in Ostdeutschland wieder. Der Ort war trostlos, ich war geschockt und wollte sofort wieder zurück. Wir blieben zwei Monate dort und wohnten mit einer fremden Familie in einem Zimmer.

Ich wusste damals nicht, wann wir endlich wieder in einer größeren Stadt wohnen würden und ich mein Studium fortsetzen könnte. Ich wusste nur, dass ich nichts über Deutschland weiß und als Erstes unbedingt Deutsch lernen muss. Also habe ich schnell mit einem Sprachkurs angefangen.

In der Ukraine hatte ich bereits zwei Jahre Management studiert, ich wollte in Deutschland damit weitermachen. Aber das ging nicht. Ich bedauere sehr, dass meine Eltern nicht ein paar Jahre früher ausgewandert sind, als ich noch ein Kind war. Dann hätte ich die Sprache leichter gelernt. Als ich es dann gut genug konnte, habe ich in Kassel Soziologie und Psychologie studiert.

Seit 2011 arbeite ich in Frankfurt bei der Jewish Claims Conference. Mein Arbeitstag endet meist gegen 18 Uhr. Manchmal gehe ich mittags raus, treffe mich mit Kollegen oder Freunden zum Essen. Und wenn das Wetter gut ist, dann gehe ich nach der Arbeit zu Fuß nach Hause. Dieser Spaziergang durch die Stadt dauert fast zwei Stunden. Auf dem Rückweg trinke ich hin und wieder einen Kaffee, sitze auch mal auf einer Bank auf dem Goetheplatz und beobachte Passanten. In der Natur bin ich auch gelegentlich, aber ich mag das Spazierengehen in der Stadt. Ich bin ein Stadtmensch. Auch wenn ich woanders bin, gehe ich viel zu Fuß. So erfahre ich mehr über die Seele der Stadt und über ihre Menschen. Das Spazierengehen ist mein Sport.

Meine Freizeit verbringe ich unter anderem mit Lesen. Ich lese sehr gerne, meist zwei Bücher parallel, eines auf Deutsch und eines auf Russisch. Auf Deutsch habe ich gerade angefangen mit Die Straßen von gestern von Silvia Tennenbaum, das ist ein Roman über Frankfurt. Wenn ich Deutsch lese, muss ich mich viel mehr konzentrieren. Neuerdings lese ich über Kindle; das ist sehr praktisch. Ich kann eine ganze Bibliothek mit mir tragen. Das macht mir große Freude! Seitdem ich lesen kann, lese ich sehr gerne und viel. Manchmal setze ich mich mit einem Buch ans Mainufer.

Pläne Donnerstagabends mache ich meist meine Pläne für die nächste Woche und erledige meine Post. Ich habe einen Papierkalender und mache auch meine Notizen handschriftlich in ein Heftchen. Ich mache sehr viele Notizen – mit wem ich telefoniert und was ich vereinbart habe, was ich erledigen und besorgen muss ...

Alles für den Haushalt und Lebensmittel bestelle ich übers Internet. Das mache ich meistens Donnerstag- oder auch mal Freitagabend. Der Supermarkt in meinem Viertel liefert nach Hause; das ist sehr praktisch, da muss ich nichts tragen, keine Wasserkisten schleppen, nicht in der Schlange stehen, nicht viel Zeit durchs Warten verlieren.

Freitags gehe ich meist shoppen und treffe mich abends mit Freunden. Seit ein paar Monaten bin ich wieder Single. Gelegentlich fragen mich Leute: »Du bist schon 33, willst du nicht Mann und Kinder haben?« Ich bin nicht der Meinung, dass man gleich ein Kind haben muss, wenn man über 30 ist. Es ist wichtig, sich dafür bereit zu fühlen. Ich kenne Frauen, die waren älter als 40, als sie Mutter wurden. Wenn es sich ergibt, dann würde ich natürlich sehr gerne eine Familie gründen. Das ist aber kein Muss. Für mich ist Familie ein Weg und nicht das Ziel.

freunde Ich habe einen gemischten Bekanntenkreis – viele aus der jüdischen Gemeinde und auch vom Büro, leider aber nicht viele Deutsche. Ich bin offen und knüpfe schnell Kontakte. Gern hätte ich mehr Freunde, die hier geboren und aufgewachsen sind. Dann hätte ich die Möglichkeit, mir das Beste aus den unterschiedlichen Kulturen anzueignen. Ich denke, dass ich mehr über die deutsche Kultur erfahren würde, wenn ich mehr deutsche Freunde und Bekannte hätte. Zu gerne wüsste ich, wie ich geworden wäre, wenn ich in Frankfurt geboren und aufgewachsen wäre.

Am Wochenende gehe ich oft aus: Ich treffe mich mit Freunden, wir gehen ins Kino, in eine Bar oder etwas essen. Sehr selten bin ich auf einer Party; das ist nicht so mein Ding, ich bin kein Partymensch. Sonntags telefoniere ich mit meiner Familie und lese viel. Abends schaue ich auf meinen Terminkalender und stelle mich auf den Wochenanfang ein.

Mein Problem ist, dass ich nicht so gut abschalten kann. Die Lebensgeschichten der Menschen, mit denen ich mich beruflich befassen muss, beschäftigen mich auch nach der Arbeit. Das Schicksal der Holocaust-Überlebenden und ihre heutige Lebenssituation nehmen mich sehr mit. Es macht mich oft traurig und erschöpft mich.

Eigentlich würde ich gern unbeschwerter leben und auch viel mehr reisen. Vor einigen Jahren war ich in Spanien, es hat mir dort sehr gut gefallen, ich würde da gern einmal für längere Zeit hinfahren. Außerdem stehen Italien und Frankreich als Reiseziele auf meiner Liste. In beiden Ländern bin ich noch nie gewesen. Exotische Länder sind eher nichts für mich; mein Blick ist mehr auf Europa gerichtet. Doch einen Fernreisetraum habe ich: Ich würde gern einmal nach Georgien und Armenien. Der Kaukasus fasziniert mich. Ich hoffe, dass ich diesen Traum verwirklichen kann.

Aufgezeichnet von Canan Topçu

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