Jeder Tag beginnt für mich mit dem Schacharit. Ich liebe dieses Ritual. Das Morgengebet empfinde ich als eine Art Startrampe für einen gelungenen Tag. Danach kann eigentlich nicht mehr viel schiefgehen. Am meisten gefällt mir das Schma Jisrael. Allein schon die Melodie und die Rhythmik der Sätze – Gänsehaut pur!
Nach dem Gebet verschaffe ich mir am Smartphone dann erstmal einen Überblick, welche Aufgaben auf mich warten. Für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge arbeite ich als Übersetzer. Mein Spezialgebiet sind mehrere westafrikanische Sprachen sowie Französisch und Englisch. Ich sage immer zum Spaß: Wenn ich so viel Geld wie Arbeit hätte, wäre ich ein reicher Mann. Aber ich beschwere mich nicht. Ich habe ein gutes Leben – und bin froh, frei zu sein.
folter Wie wichtig Freiheit ist, weiß ich nur zu gut. Als junger Student wurde ich in meiner Heimat Guinea von der damals herrschenden Militärjunta verhaftet, verhört und gefoltert. Man beschuldigte mich der Verschwörung. Dabei hatte ich mit Kommilitonen bloß für bessere Studienbedingungen demonstriert.
Das war Mitte der 90er-Jahre, als in Guinea nach dem Untergang der Sowjetunion ein Machtvakuum entstand und viele Strömungen sich bekämpften. Die Militärjunta sah in jedem einen potenziellen Feind, sperrte Menschen wahllos ein. Das waren schlimme Zeiten. In Europa kann man sich nicht vorstellen, wie unsagbar brutal es in Afrika zugehen kann. Manchmal verfolgt mich die Erinnerung daran noch in meinen Träumen. Aber darüber rede ich nicht gern. Ich konzentriere mich lieber auf das Positive.
Bis heute weiß ich nicht genau, wie die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte es damals geschafft hat, mich aus dem Gefängnis zu holen. Doch irgendwie haben sie mir ein Studentenvisum für Deutschland besorgen können. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich die Hoffnung eigentlich schon aufgegeben, die Haft zu überleben. Deutschland war meine Rettung, da bin ich mir ziemlich sicher.
Schnee Mein erster Eindruck von der Bundesrepublik war: Puh, ist das kalt hier – und so weiß! Am Tag meiner Landung im November 1996 lagen mehrere Zentimeter Schnee. Typisch deutsches Winterwetter eben: dunkel, kalt und verschneit. Ich habe gefroren ohne Ende. Zu meinem Begleiter habe ich aus Spaß gesagt: Ich will zurück ins Gefängnis nach Guinea!
Zuerst habe ich in Aachen gewohnt, dann bin ich wegen des Studiums nach Bochum gezogen. Mittlerweile fühle ich mich in Deutschland sehr wohl. Die ersten Jahre aber haben mir die kulturellen Unterschiede hier ganz schön zu schaffen gemacht. Guinea und Deutschland – das sind zwei vollkommen unterschiedliche Welten.
Ich mag die Deutschen wirklich sehr, aber auf den ersten und zweiten Blick wirken sie verschlossen und ernst. Die Art zu kommunizieren ist hier sehr rational, logisch und zweckgebunden. Dass das nicht böse gemeint ist, musste ich erst einmal lernen – und dass die Deutschen auf Feiern wie ausgewechselt sind.
Alkohol Als ich zum Beispiel damals in Aachen mit Arbeitskollegen zum ersten Mal eine Feier besucht habe, traute ich meinen Augen nicht: Alle haben gelacht und ausgelassen getanzt. Am nächsten Morgen auf der Arbeit waren dann alle wieder ernst. Dieses Verhalten habe ich lange Zeit nicht verstanden. Inzwischen weiß ich Bescheid: Um aufzutauen, brauchen manche Deutsche einfach ein bisschen Alkohol. Das ist der größte Kulturunterschied, würde ich sagen. In Afrika ist immer Party, auch wenn es nichts zu feiern gibt.
Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich mich in der jüdischen Gemeinschaft so wohlfühle. Vom Temperament her können es die hauptsächlich russischen Mitglieder in meiner Bochumer Gemeinde locker mit Afrikanern aufnehmen. Sie sind genauso laut, chaotisch, herzlich und manchmal auch ein bisschen antidemokratisch wie meine Brüder und Schwestern in Guinea. Ich mag an den Zuwanderern ihre Lockerheit, Herzlichkeit und ihr Verständnis für menschliche Schwächen.
Warum ich vor einigen Jahren ein so starkes Interesse am Judentum entwickelt habe? Nach meiner Haftzeit in Guinea war ich auf der Suche nach religiösem Halt. Ich bin zwar als Muslim geboren worden und aufgewachsen. Spirituell erfüllt hat mich der Islam jedoch nie wirklich. Das war der Ausgangspunkt, mich mit anderen Religionen zu befassen. Im Judentum habe ich schließlich gefunden, wonach ich lange gesucht habe. Ich fühle mich angekommen. Die Tora, der jüdische Kalender, die Mizwot – was für ein sagenhaftes Geschenk!
Beit Din In der Bochumer jüdischen Gemeinde hatte ich das Glück, auf Rabbiner Moshe Navon zu treffen. Bei ihm habe ich Schiurim besucht, und das Judentum so Stück für Stück kennengelernt. Nach mehreren Jahren Tora-Studium war es im Jahr 2009 dann endlich so weit: Ich erhielt beim Rabbinatsgericht in Berlin einen Termin wegen meines Übertritts zum Judentum.
Die Fragen der drei Rebben haben mich ganz schön ins Schwitzen gebracht: Die jüdischen Feste wurden abgefragt, die Geschichte des jüdischen Volkes und natürlich die Tora. Vieles konnte ich beantworten, manches aber auch nicht. Am Ende des Gesprächs teilten mir die Rabbiner mit, dass ich noch nicht bereit sei zu konvertieren.
Ich habe das als Herausforderung gesehen und für den zweiten Termin beim Beit Din noch mehr Power gegeben. Ganze zwei Jahre lang habe ich weiter Tora und Hebräisch gelernt, um besser vorbereitet zu sein. Es hat sich gelohnt: Beim zweiten Mal haben die Rabbiner mich ins Judentum aufgenommen. Wie glücklich ich war!
Ramadan Für meine Familie und insbesondere für meine Mutter war mein Übertritt vom Islam zum Judentum sehr schwierig. Sie konnten das lange nicht akzeptieren. Dabei ist meine Familie alles andere als religiös. Wir haben zu Hause den Ramadan gehalten und das Zuckerfest gefeiert, aber das war es dann auch. Inzwischen akzeptiert meine Familie, dass ich Jude bin. Wenn ich zu Hause in Afrika bin und am Schabbes bete, stellt mir meine Mutter mittlerweile sogar auch manchmal interessierte Fragen.
Trotzdem gab es erst kürzlich wegen meiner Religion richtig Krach in meiner Familie. Meine Mutter hatte für mich in Guinea eine Ehe arrangiert. Die Braut habe ich erst kurz vor der Heirat kennengelernt. Damit hatte ich große Probleme. Aus Respekt vor meiner Mutter habe ich letztlich mein Einverständnis gegeben.
Meine Ehefrau ist rund zehn Jahre jünger als ich und arbeitet im Handelsministerium. Sie ist Muslimin, aber absolut liberal und dem Judentum gegenüber positiv eingestellt. Ich finde sie wirklich sensationell. Ich habe sie erst ein paar Mal gesehen, aber ich glaube, dass wir einander schon jetzt lieben. Ich will alles versuchen, dass die Ehe erfolgreich sein wird. Wenn alles gut läuft, bekommt meine Frau mittelfristig ein Visum und kann zu mir nach Bochum ziehen. Dann können wir uns richtig kennenlernen und gucken, wie unsere Liebe verlaufen wird.
Sollte sich herausstellen, dass unsere Ehe keinen Bestand haben wird, würde ich gern eine jüdische Frau heiraten. Auf jeden Fall sollen meine Kinder eine jüdische Erziehung erhalten. Man wird sehen, wie sich die Dinge entwickeln werden. So oder so bin ich mir sicher, dass es gut werden wird. Ich lasse die Zukunft auf mich zukommen. Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, mach’ einen Plan, heißt es ja oft.