Portrait

»Ich bekomme viel zurück«

»Ich versuche, den Kindern etwas von Israel zu vermitteln«: Solly Guigui (72) lebt in Langen. Foto: Rafael Herlich

Ich wurde 1945 in Kairo geboren. 1956, nach dem Sinai-Krieg, mussten wir Ägypten verlassen, weil mein Opa fünf Jahre zuvor nach Israel ausgewandert war. Mein Vater wurde als ein Zionist betrachtet. Man zwang uns, Kairo innerhalb von 24 Stunden zu verlassen.

Wir durften etwa 40 Kilo Gepäck pro Kopf und ein paar Hundert Dollar mitnehmen. Wir waren zu fünft: Vater, Mutter, ich und meine zwei Schwestern. Wir flohen über Italien, hielten uns einen Monat lang in Neapel auf, soweit ich mich erinnere, denn ich war erst elf Jahre alt. Von dort aus brachte uns die Jewish Agency mit dem Schiff nach Israel.

Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es gewesen wäre, mein ganzes Leben in Ägypten zu verbringen. Wir kamen direkt nach Aschkelon, dort bekamen wir eine Wohnung zugeteilt. Es war eine wunderschöne Kindheit in Israel. In der Großstadt Kairo war alles asphaltiert, in Aschkelon lag hinter unserem Haus ein großer Orangenhain. Für uns Kinder war das Leben superschön. Ich ging auf die Schule, die Landwirtschaftsschule schloss ich nicht ab, dann folgte der Armeedienst. Nach der Armee, das hatte ich schon zuvor entschieden, wollte ich zum Studium in die USA gehen.

ägypten
Das hat eine Vorgeschichte: Noch in Ägypten, ich war neun Jahre alt, hatte ich einen Fahrradunfall und bekam einen Gips ums Bein. Der Arzt bat mich, bis zum nächsten Termin etwas Schönes auf den Gips zu malen. Das löste vermutlich meine Liebe zu Malerei und Kunst aus.

Das Ergebnis gefiel mir und auch dem Arzt sehr gut, danach habe ich viel gemalt. Vor der Armee hatte ich also die Idee, Kinematografie und Animation zu studieren. Ich könnte dann malen und zeichnen, und das wird für mich eine tolle Sache, dachte ich. Drei Tage nach Ende des Armeedienstes, mit 21 Jahren, ging ich nach New York und studierte zwei Jahre lang Film und Animation. Das war sehr schön, aber die Arbeitsschritte waren sehr aufwendig. Ich entschied mich, weiter zu studieren, aber zur Fotografie zu wechseln. Das machte ich zwei weitere Jahre lang.

Nach dem Studium fing ich an zu arbeiten. Insgesamt lebte ich zehn Jahre in New York. Dort heiratete ich, bekam eine Tochter, ließ mich scheiden. Meine Ex-Frau ging zurück nach Israel, ich blieb mit meiner Tochter in New York. Dann kehrte auch sie zurück nach Israel. Bei jedem Besuch fragten mich meine Eltern: »Was machst du allein in New York, deine Tochter lebt hier, komm doch nach Hause!« Also entschied ich mich 1973, doch wieder nach Israel zu ziehen – obwohl die Verhältnisse damals wegen der hohen Inflation katastrophal waren. Ich bestellte telefonisch Fotomaterialien, und während ich mich auf den Weg machte, sie abzuholen, waren sie schon teurer geworden. So schlimm war das.

erwartungen Aus New York kommend, erwartete ich, in Israel an meine bisherige Arbeit anknüpfen zu können. Das war aber nicht der Fall. Ich trat beruflich eine Zeit lang auf der Stelle. Ich arbeitete als Werbefotograf für große Kunden, aber niemand hatte Geld. In Tel Aviv besaß ich ein Fotostudio mit allem, was dazugehört. Das war immer, auch später in Deutschland, mein Setup: ein von A bis Z voll ausgestattetes Studio, von der Idee bis zum Druck. Das ist mein Beruf, seit 50 Jahren. Man könnte es Fotodesign nennen.

1980 lernte ich in einem Ferienklub meine jetzige Frau kennen. Sie ist Deutsche und kommt aus dem hessischen Städtchen Langen. Wir hatten die Idee, zusammen in Belgien zu leben. Ich wollte nicht nach Deutschland gehen. Ich hatte erstens keine größeren Gefühle für das Land. Und zweitens sprach ich überhaupt kein Deutsch. Belgien schien mir ein passender Ort zu sein, weil ich in Israel viel mit der Diamantindustrie gearbeitet hatte und Antwerpen als Zentrum der europäi­schen Diamantindustrie gilt. Aber stattdessen landete ich 1981 in Frankfurt.

Damals war die Mainmetropole ein Mekka für Werbung. Die größten europäi­schen Werbeagenturen saßen dort. Das Geschäft lief gut. Mit meiner Firma »Imagic« habe ich unter anderem Werbekampagnen für Coca-Cola und Valensina gemacht. Die Kampagnen verliefen analog, und alles, was man braucht, war selbst gemacht: Fotos, Gestaltung, Montage, Retuschen und Grafik.

Doch dann begann 1989 die Digitalisierung. Ich hatte zu dieser Zeit zwölf Mitarbeiter und ein 500 Quadratmeter großes, schickes Studio – aber keinen Computer. Potenzielle Kunden besuchten mich, sie dachten, ich hätte schon einen Computer – was nicht der Fall war. Das machte sich auch beim Umsatz bemerkbar, der um die Hälfte fiel. Ich musste einige Mitarbeiter entlassen. Die Kunden sagten: Herr Guigui, was Sie machen, macht kein Computer. Aber sie wechselten allein der Neugier halber zur digitalen Technik. Da dachte ich: Jetzt ist es an der Zeit. Ich nehme mein ganzes Equipment, zwei Container voll mit Kameras, Blitzanlagen und Entwicklungsmaschinen, und gehe nach Tel Aviv.

container Davor machte ich meine Firma zu und ließ mich am Computer umschulen und beschäftigte mich mit Programmen, die mich interessierten. Ich wusste, was ich schon gemacht hatte und wie man das digital erreichen kann. Das war für mich kein großer Sprung. Ich ließ also zwei Container nach Israel verfrachten. Meine Frau und ich hatten die Idee, dass ich vorfahre nach Israel und nach einem Jahr die Familie nachhole. Unsere Kinder waren damals neun und 14 Jahre alt, noch jung genug für einen Umzug.

Leider gab es zu dieser Zeit viele Anschläge in Israel. Meine Frau und meine Kinder bekamen Angst. Ich fuhr nach Deutschland, um sicherzugehen, dass sie wirklich nach Israel kommen wollen. Zwei Wochen blieb ich in Frankfurt.

Als ich nach Tel Aviv zurückflog, war das Studio dort wegen eines Wasserrohrbruchs beschädigt, alles war feucht. Zudem war ich bestohlen worden: Alle Kameras, Objektive und Blitzanlagen waren weg. Übrig geblieben sind die großen Entwicklungsmaschinen. »Was machst du jetzt?«, fragte ich mich. Vielleicht versucht Gott, mir etwas zu sagen, dachte ich, nämlich: »Nimm dich zusammen und geh zurück nach Deutschland.« Meine Frau wollte sowieso nicht nach Israel auswandern, und allein, ohne meine Familie, wollte ich dort nicht bleiben.
Die erste Zeit zurück in Frankfurt war schwer.

Malkurs Zuerst die Digitalisierung, dann der gescheiterte Versuch, nach Israel zu gehen. Es hat bestimmt fünf bis zehn Jahre gedauert, bis ich wieder wusste, was ich machen wollte. Ich habe dann angefangen zu malen. Das war eine Sache, die ich schon als Kind mochte. Und ich fing langsam an, am Computer zu arbeiten. Inzwischen war ich in Langen gelandet. Dort lebe ich noch heute. Irgendwann brachte mich der Fotograf Rafael Herlich zum Jugendzentrum der Jüdischen Gemeinde Frankfurt. Seit vier Jahren bin ich zweimal in der Woche dort. Sonntags bastle ich mit den Kindern. Montags habe ich einen Malkurs.

Es ist die schönste Sache, die mir je passiert ist: mit Kindern zu arbeiten. Die meisten von ihnen sind aus Russland, sie haben keine Verbindung zu Israel. Alles, was ich mache, ist: Ich versuche, dort etwas von Israel zu vermitteln. Im Treppenhaus habe ich ein Israel-Panorama gemalt: Menschen, Orte und Landschaften von Eilat bis nach Haifa.

Im Jugendzentrum habe ich auch Türen bemalt. Jede Tür steht für eine israelische Stadt. Ich liebe Israel. In meinem Leben lebte ich aber länger außerhalb Israels als dort. Vielleicht ist die Liebe deshalb so stark. Meine Schwester lebt in Israel, auch einige Freunde aus meiner Kindheit. Wir treffen uns immer wieder.

pessach Ich bin in einer nichtreligiösen Umgebung aufgewachsen. Mein Vater ging nur an Jom Kippur in die Synagoge und nahm uns mit. Pessach und alle Feiertage haben wir immer mit der ganzen Familie gefeiert. Es war ein Judentum »light«. Deswegen kann ich mit meiner Frau glücklich sein, obwohl sie keine Jüdin ist.

Meine erste Frau konvertierte zum Judentum. Meiner jetzigen Frau habe ich gesagt, sie könne es halten, wie sie möchte. Ich bin kein Missionar. Meine Kinder spüren das Judentum, aber auch eher »light«. Meine Tochter aus der ersten Ehe lebt auch in Deutschland.

Für die »Jewrovision« habe ich dieses Jahr in einem Musikvideo des Frankfurter Jugendzentrums mitgespielt. Wie jedes Jahr habe ich das Bühnenbild für den Auftritt des Jugendzentrums gemacht. Ich bin jetzt 72 Jahre alt. Ich möchte gesund bleiben und weitermachen, mit Kindern arbeiten. Es ist so fruchtbar! Ich gebe den Kindern etwas und bekomme viel Liebe von ihnen zurück.

Aufgezeichnet von Eugen El

Frankfurt/Main

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