Helene ist sechs Jahre alt, besucht die erste Klasse der Joseph-Carlebach-Schule im Hamburger Grindelviertel, und sie kann schon einen Finger verbinden. Ihr Lieblingsfach: Englisch – das wird hier ab der ersten Klasse unterrichtet. Gerne geht sie aber auch in den wöchentlichen Kurs »Mensch und Gesundheit«.
Den gibt kein Lehrer, sondern ein ausgebildeter Krankenpfleger: »Meine Lebensgefährtin ist hier Lehrerin, und eines Tages hat sie mich gefragt, ob ich nicht einen Kurs übernehmen möchte«, erzählt Frank Keßler. Er wollte – und seitdem lernen die Schüler nicht nur, an welcher Stelle im Körper das Herz pocht, sondern auch, wie man helfen kann, wenn sich ein Mitschüler auf dem Schulhof verletzen sollte.
Schulscout Sabine dagegen ist schon in der vierten Klasse. Sie kommt aus Hamburg-Jenfeld, was nicht gerade um die Ecke liegt. Ein Schulbus holt sie und andere Schüler, die im Osten Hamburgs wohnen, ab. »Hier gibt es ganz tolle Lehrer, und ich habe viele Freunde gefunden«, erzählt sie. Heute ist sie Schulscout und zeigt interessierten Erwachsenen ihre Schule, denn es ist Tag der Offenen Tür. Das Gebäude, in dem sich ihre Schule befindet, feiert 100- jähriges Bestehen.
Umzug Das Gebäude, nicht die Schule. Und das alles hängt wie folgt zusammen: Als die 1805 gegründete, in der Hamburger Neustadt gelegene Talmud-Tora-Schule für die vielen Schüler, die hier lernen wollten, zu klein wurde, sucht man für sie einen neuen Standort. Die Verantwortlichen bauten schließlich im Grindelviertel gleich neben der damaligen Synagoge am Bornplatz ein neues Haus aus rotem Backstein, in das die Talmud-Tora-Schule 1911 umzog.
Längst ist sie nicht nur eine religiöse Schule, sondern zugleich staatlich anerkannte Realschule. Die Hamburger schwärmten damals von dem Bildungselan, mit dem die jüdische Gemeinde ans Werk ging. Zwei Jahrzehnte später sollte bekanntlich alles anders aussehen: Eine Tafel in der heutigen Eingangshalle listet die Namen all der Schüler, der Lehrer und der anderen Angestellten auf, die ab 1940 aus der Hansestadt deportiert wurden und ums Leben kamen. Darunter auch Joseph Carlebach, Oberrabbiner – zunächst von Altona, später von Hamburg – und davor von 1921 bis 1926 prägender Leiter der damaligen Talmud-Tora-Schule.
Nach 1945 kauft die Stadt Hamburg das Gebäude von der Jewish Claims Conference. Lange wird es von der Hamburger Universität genutzt, dann 2004 im Kontext der Umgestaltung des Platzes der ehemaligen Synagoge am Bornplatz an die Jüdische Gemeinde der Hansestadt zurück-gegeben.
Rückschlag Zwei Jahre zuvor hatte diese in ihren Gemeinderäumen in der Schäferkampsallee eine Schule schon unter dem Namen des von der Reformpädagogik beeinflussten Joseph Carlebach gegründet. Doch das Projekt musste schon nach kurzer Zeit abgebrochen werden. »Es waren zu wenig Schüler, es fehlte an Räumlichkeiten. Das Lehrerteam war nicht ausgebildet genug, die finanzielle Unterstützung war nicht stark genug – es musste schiefgehen«, erzählt Alexander Topaz, Elternratsvorsitzender und auch Vorsitzender des Freundeskreises der Schule.
Er war damals einer der Ersten, der sein Kind wieder aus der Schule nahm: »Unsere jüngste Tochter lernte nichts, kam jeden Tag müde und enttäuscht nach Hause. Es war sehr schockierend und auch traurig, zu erleben, dass ein Schulversuch auch scheitern kann.«
Doch beim zweiten Anlauf ist er, wie auch andere Eltern, wieder mit Elan dabei, als 2007 die Neugründung der Schule erfolgt – in den Räumen der einstigen Talmud-Tora-Schule. »Schon als wir die Räumlichkeiten besichtigten, wussten wir: ›Hier kann es funktionieren, hier muss es funktionieren‹.
Das eigentliche Schulkonzept stand schon vorher und war auch schon vorher gut. Vielleicht waren wir einfach zu früh«, erzählt Topas. Die Neugründung wird eine Erfolgsgeschichte: Die Schule beginnt mit gerade einmal zwölf Schülern. Heute – nur vier Jahre später – sind es 100.
Das Markenzeichen der Schule: Jahrgangsübergreifender Unterricht, weitgehender Verzicht auf klassischen Frontalunterricht, dafür individualisiertes Lernen. Und ganztägiger Unterricht von Beginn an: »Als wir anfingen, gab es das kaum in Hamburg; wir haben da echte Pionierarbeit geleistet«, sagt Topaz mit etwas Stolz in der Stimme.
Aufbau So sieht denn auch die Zukunft sowohl für das Gebäude wie für die in ihr lebende Schule bestens aus: Jüngst konnte die Sekundarstufe eröffnet werden und der Plan, in der Folge auch eine gymnasiale Oberstufe einzurichten, ist längst keine Träumerei mehr. »Die eigentliche Wachstumsphase steht uns noch bevor«, sagt Schulleiter Gerd Gerhard. Die Anfragen und damit auch die Anmeldungen mehren sich.
Und das hat nicht nur mit einer wachsenden jüdischen Gemeinde zu tun: Seit im vergangenen Jahr eine grundlegende Reform des Hamburgischen Schulsystems durch einen Bürgerentscheid gestoppt wurde und derzeit in puncto Reformen eine Art lähmender Stillstand herrscht, sind reformfreudige Schulen wie die Joseph-Carlebach-Schule gerade für Eltern sehr attraktiv geworden, denen eine besondere Förderung ihrer Kinder am Herzen liegt. »Wir wollen keine übliche Schule sein, und wir wollen für alle zugänglich bleiben. Wir wollen aber auch ein hohes Maß an Exzellenz, an Qualität erreichen«, formuliert es Alexander Topaz.
»Na klar, kenne ich hier alle Schüler«, sagt die Viertklässlerin Sabine und beschreibt damit auf ihre Weise ein wesentliches Moment der Schule: Es ist ein sehr vertrauter, fast familiärer Rahmen, innerhalb dessen das Lernen stattfindet. Auch das Gebäude wird seine Gestalt daran anpassen müssen: Es steht an, die Dachböden zu Unterrichtsräumen auszubauen.