Lasse deine Gnade walten über Chemnitz, unsere Stadt, und Deutschland. Sende Heilung seiner Wunden, Aufrichtung seiner Gebeugtheit, Kraft und Schwung seiner staatlichen und wirtschaftlichen Entfaltung. Lasse die Stimme des Streites verstummen in unserer Stadt und unseren Landen.» Es ist bereits das zweite Mal in diesem Jahr, dass die Jüdische Gemeinde Chemnitz dieses sonst selten gesprochene Gebet für ihre Stadt in den Schabbatgottesdienst aufnimmt – aus aktuellem Anlass.
Wie für alle Menschen in Chemnitz ist es nicht einfach für die etwa 600 Mitglieder zählende Jüdische Gemeinde, damit umzugehen, dass auf den Straßen der Hitlergruß gezeigt wird, dass aber auch die «Flüchtlinge aus arabischen Ländern, sag’ ich mal vorsichtig», so Gemeindevorsitzende Ruth Röcher, den Juden nicht immer wohlgesonnen seien.
Dennoch ist die Tür der Synagoge am Freitag vor dem Gebet weit offen. Zwei Gemeindemitglieder – der eine kam vor Jahren aus der Ukraine, der andere aus Moldawien, beide leben seit Jahrzehnten in Deutschland – verfolgen die Ereignisse in Chemnitz, aber sie wirken ruhig, sprechen auf Russisch auch über Alltägliches.
probleme Die Juden in Deutschland stünden «zwischen den Rechten, die uns nicht lieben, und den Flüchtlingen, die uns auch nicht lieben in der Regel, und wir stehen mitten in der Gesellschaft. Wir fühlen uns seit Jahren sehr willkommen, was Chemnitz betrifft», sagt Ruth Röcher und bekräftigt: «Wir leben in einer guten Stadt.»
Bei Problemen, und da seien nicht viele gewesen, wisse sie, sie könne die Oberbürgermeisterin erreichen, den Polizeipräsidenten – auch vor dem Schabbatgottesdienst fährt ein Polizeiauto langsam an der Synagoge vorbei. «Wir haben hier keinen Antisemitismus, wir leben hier wirklich gut.» Die Mehrheit der Chemnitzer seien «vernünftige Leute». Die Rechten nutzten diesen schlimmen Mord aus. «Wäre ein Deutscher der Mörder, hätte kein Mensch danach geschrien. Es hat nur damit zu tun, dass es Flüchtlinge sind», meint Röcher.
Einer der etwa 30 Menschen, die am Gottesdienst teilnehmen, ist Uwe Dziuballa, Inhaber des jüdischen Restaurants «Schalom». «Es brodelt schon länger, seit 2015», so sein Eindruck. Weshalb es ihn wundert, dass Politiker in Sachsen ihrerseits jetzt «verwundert» sind über die eskalierende Gewalt und dass der Tod eines jungen Mannes von Rechten ausgenutzt wird.
pflastersteine Am vergangenen Montag, «21.44 Uhr», Dziuballa kennt die Uhrzeit noch genau, habe er das erste Mal nach langer Zeit wieder «richtig Schiss gehabt». Nach einem Vortrag über die Arisierung jüdischer Unternehmen, das Restaurant war fast leer, sei draußen etwa ein Dutzend schwarz Vermummter mit Steinen und Eisenstange auf ihn zugekommen, habe mit dem Vokabular der Rechten gerufen: «Judenschwein, verschwinde aus Deutschland» und ihn leicht an der Schulter verletzt. Einige der mehr als faustgroßen Pflastersteine hat er aufgehoben.
Immerhin: «Eine Sekunde später war die Polizei da. Sie war schnell, kompetent und sachlich.» Inzwischen werde das «Schalom» stärker bestreift. Doch auch Dziuballa sagt: «Es ist traurig, dass das notwendig ist. Aber es ist nicht repräsentativ für Chemnitz, es ist nicht Alltag.» Man sei hier willkommen wie in jeder anderen Stadt; er erfahre zwar Antisemitismus, wenn er mit Kippa durch die Straßen gehe, auch von muslimischen Flüchtlingen, «aber es gibt auch Leute, die uns mögen».
Und er wünscht sich, dass die Politik endlich «Probleme nicht aussitzt, sondern selbst ›Gesicht zeigt‹». Man müsse Asylansprüche schnell prüfen und Flüchtlingen, die bleiben dürfen, in kürzester Zeit eine Perspektive bieten, andere aber schnell zurückführen.
dialog Ruth Röcher hofft, dass Chemnitz wieder eine ruhige Stadt wird. Die Gemeinde beteiligt sich an einer ökumenischen Kundgebung der Kirchen unter dem Motto «Wir in Chemnitz: aufeinander hören, miteinander handeln», tritt damit ein für «Recht, Respekt, Dialog, Gewaltlosigkeit, Problembewusstsein, Barmherzigkeit, Demokratie».
Es gibt zaghafte Kontakte der Jüdischen Gemeinde mit zum Christentum konvertierten Muslimen. Am Samstag standen bei einer überparteilichen Gegendemonstration an der Johanniskirche Menschen mit Israelfahne und einem muslimischen Friedenstransparent dicht beieinander. Auch die Zivilgesellschaft müsse aufstehen, sagt Ruth Röcher, «aber das allein reicht nicht».
Der Autor arbeitet für die «Freie Presse» in Chemnitz, in der dieser Text gekürzt erschien.