Solche Szenen machen fassungslos: Eine junge Lehrerin kommt als Vertretung zum Geschichtsunterricht in eine Klasse ihres Gymnasiums. Ein Schüler springt auf, streckt den Arm aus und ruft den Hitlergruß. Dass sie Jüdin ist, weiß er nicht.
Ein Beispiel, das beim Netzwerktreffen gegen Antisemitismus Baden-Württemberg bei der Israelitischen Gemeinde in Freiburg zur Sprache kam. Organisiert wurde der Tag von der Berliner Amadeu-Antonio-Stiftung in Kooperation mit dem Anne-Frank-Zentrum Berlin im Rahmen der Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus des Bundesprogramms »Demokratie leben«.
Diskutiert wurde darüber, was sich an den Schulen verändern muss, in Zeiten, in denen antisemitische Ereignisse immer häufiger vorkommen.
Es gibt weitere eindrückliche Beispiele, wie das von einem Elfjährigen, der seinen jüdischen Freund plötzlich als »geizigen Juden« beschimpfte, als dieser sein Pausenbrot nicht mit ihm teilen wollte. Referendarin und Mitglied im Expertenrat gegen Antisemitismus Baden-Württemberg, Alexandra Poljak, und die Lehramtsstudentin Ruth Bostedt haben knapp 80 jüdische Kinder und Jugendliche zwischen zehn und 18 Jahren zum Thema Antisemitismus befragt und dabei von vielen Ereignissen aus dem Schulalltag erfahren.
Workshop Ruth Bostedt ist Vizepräsidentin des Bundes Jüdischer Studenten Baden (BJSB). In ihrem Workshop in Freiburg sitzen Menschen, die im pädagogischen Bereich mit Jugendlichen oder Erwachsenen arbeiten. Sie diskutieren darüber, was sich an den Schulen verändern muss, in Zeiten, in denen antisemitische Ereignisse immer häufiger vorkommen.
Doch das gilt längst nicht nur für Schulen: Im Podiumsgespräch mit Franziska Göpner vom Anne-Frank-Zentrum berichten Irina Katz, die Vorsitzende der Israelitischen Gemeinde Freiburg, und Rami Suliman, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Pforzheim sowie der Israelitischen Religionsgemeinschaft Baden, von den Veränderungen in ihren Gemeinden.
Inzwischen gebe es fast täglich Beleidigungen, Drohungen und Attacken im Umfeld der Freiburger Synagoge, erzählt Irina Katz. Als sie dort kürzlich jemanden darum gebeten habe, den Weg frei zu machen, hagelte es Kommentare wie: »Wir haben euch zu Recht erschossen.« Obwohl die Kameras den Vorfall aufgezeichnet haben, seien die Männer nicht ermittelt worden.
2018 gab es in Baden-Württemberg 136 antisemitische Straftaten.
Der aktuelle Bericht des Landesbeauftragten gegen Antisemitismus, Michael Blume, listet für das vergangene Jahr 136 antisemitische Straftaten in Baden-Württemberg auf. Innerhalb eines Jahres gab es einen Anstieg von fast 40 Prozent. Rami Suliman ist überzeugt: »Antisemitismus in Deutschland gab es immer, früher hat man nur nichts von ihm gehört.«
Das sei jetzt anders, weil im Internet jeder schreibe, was er wolle. Es gebe keine Grenzen mehr – und keine Scham. Inzwischen sei »Jude« ein alltägliches Schimpfwort geworden, und Jüdinnen und Juden fühlten sich nicht mehr sicher.
Symbole Sowohl in Pforzheim wie in Freiburg wollen viele Gemeindemitglieder keine Post mehr von der Gemeinde bekommen, weil auf den Briefumschlägen jüdische Symbole sind, erzählen Rami Suliman und Irina Katz. Männer tragen in der Öffentlichkeit keine Kippa mehr, jüdische Kinder werden nicht mehr zum jüdischen Religionsunterricht angemeldet, damit sie nicht auffallen.
Der Bürgermeister gab die Verantwortung, gegen ein rechtsgerichtetes Plakat vorzugehen, ans Ordnungsamt weiter.
Suliman fordert schärfere Gesetze, um wirkungsvoller gegen Rechtsextremismus vorgehen zu können. Zum Beispiel, wenn antisemitische Parteien wie »Die Rechte« Plakate mit der Aufschrift »Israel ist unser Unglück« verbreiten. Als das in Pforzheim geschah, habe der Bürgermeister die Verantwortung ans Ordnungsamt abgegeben, dann seien Polizei und Staatsanwaltschaft hinzugezogen worden. Das alles habe viel zu lange gedauert.
Die Mitarbeiter von Justiz, Polizei und Schulen müssten gezielt zum Thema Antisemitismus geschult werden, fordert Suliman. Und die breite Mehrheit der Gesellschaft müsse »endlich den Mund aufmachen«. Die Forderungen könnten schnell umgesetzt werden.
Albert Scherr, Soziologieprofessor an der Pädagogischen Hochschule Freiburg, der im Publikum sitzt, betont, dass es längst genügend Material und Experten für Schulungen gebe. Es liege an den Strukturen. Nötig wäre eine flächendeckende Verankerung der Aufklärung über Antisemitismus an allen Schulen und in der beruflichen Bildung, sagt er.
Regelungen Der Expertenrat gegen Antisemitismus versuche, den Umgang mit Antisemitismus verpflichtend in der Ausbildung und Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern unterzubringen, sagt Poljak dazu. Genau das empfehle auch der Bericht von Michael Blume dem Kultusministerium. Eine Zusage aber gebe es bislang nicht.
Wie jüdische Kinder und Jugendliche die Stimmung wahrnehmen, zeigt eine Umfrage der beiden angehenden Lehrerinnen.
Wie jüdische Kinder und Jugendliche die Stimmung wahrnehmen, zeigt die Umfrage der beiden angehenden Lehrerinnen: 44 Prozent der Befragten finden, dass der Antisemitismus an Schulen gewachsen ist, 44 Prozent sind sich nicht sicher, nur zwölf Prozent sehen das nicht so. 87 Prozent von ihnen haben in ihrem Umfeld schon Witze über Juden und sich selbst erlebt. Und 18 Prozent haben versucht, sich wegen antisemitischer Vorfälle an Autoritätspersonen zu wenden, und fühlten sich von ihnen nicht ernst genommen.
Konsequenzen Auch bei dem Schüler mit dem Hitlergruß habe es keinerlei Konsequenzen gegeben, sagen sie. Als er nach den Gründen für sein Verhalten gefragt wurde, war seine Antwort: »Mein Opa macht das auch immer.« Seine Klassenlehrerin sagte, er sei eben ein verhaltensauffälliger, schwieriger Jugendlicher. Gespräche mit den Eltern und das Versprechen der Schulleitung, sich um das Thema zu kümmern, verliefen im Sande.
An einer Berufsschule in Sachsen zeigte ein Lehrer einen Schüler wegen eines Hitlergrußes an, erzählt Bostedt von einem weiteren Fall. »Das Ganze wurde fallen gelassen, weil Schulen nicht als öffentlicher Raum gelten«, sagt Bostedt.