Porträt der Woche

Hinter der Theke

Pawel Segal organisiert in Leipzig Machanot und betreibt einen Koscher-Laden

von Steffen Reichert  27.05.2013 19:52 Uhr

Fleisch, Wein, Traubensaft: Pawel Segal in seinem Geschäft Foto: Douglas Abuelo

Pawel Segal organisiert in Leipzig Machanot und betreibt einen Koscher-Laden

von Steffen Reichert  27.05.2013 19:52 Uhr

Als die Autotür zuklappte und meine Eltern zurück nach Braunschweig fuhren, als mein Vater den Motor startete und meine Mutter nochmal winkte, da sagte ich mir: »Jetzt bist du allein, jetzt musst du alles selbst entscheiden.« Fast sieben Jahre ist das nun her, sieben Jahre, in denen sich für mich vieles verändert hat.

Dass ich damals nach Leipzig zog, hatte damit zu tun, dass ich ein Bauingenieurstudium begann und man in Sachsen keine Studiengebühren zahlen muss. Eigentlich wollte ich nach Bochum, weil dort mein Cousin lebt, der für mich wie ein Bruder ist. Aber da hätte ich Studiengebühren zahlen müssen. Und auch die Lebenshaltungskosten sind dort höher als in Leipzig. Allein die Ausgaben für die Miete sind hier wesentlich niedriger.

Sohn Als orthodoxer Jude war für mich von Anfang an klar, dass eine WG ausscheiden würde. Schon wegen der Küche und wegen meines Tagesablaufs. Tja, nun lebe ich seit 2006 in Leipzig, bin verheiratet und habe inzwischen ein Kind. Ephraim Samuel ist zwei Jahre alt. Ich verbringe fast jede freie Minute mit ihm und meiner Frau.

Ich habe Anna 2007 im Tora-Zentrum kennengelernt. Es war einer dieser berühmten Zufälle – denn eigentlich waren wir uns schon einmal begegnet, hatten uns aber nicht wirklich wahrgenommen. Während einer Taglit-Reise nach Israel hatten wir im Flugzeug nebeneinander gesessen. Aber erst hier in Leipzig, als Anna von einem einjährigen Aufenthalt aus Israel zurückkam, hat es schließlich gefunkt. 2009 haben wir geheiratet. Standesamtlich in Dänemark, weil ich im Gegensatz zu Anna und aufgrund meiner Faulheit noch keine deutsche Staatsbürgerschaft beantragt habe. Also klärten wir in Dänemark alles schriftlich vorab, fuhren hin – und waren nach 24 Stunden wieder zurück. Doch die eigentliche Hochzeit mit Chuppa fand dann hier in Leipzig statt.

Dass ich einmal so jüdisch leben würde, hätte ich nicht gedacht. Geboren wurde ich 1985 in Tschwernihiw in der Ukraine. In Deutschland kennt diese Stadt niemand, erst wenn man sagt, dass sie 40 Kilometer von Tschernobyl entfernt ist, haben die Leute eine Vorstellung. Als das Unglück passierte, war ich ein Jahr alt. Mein Onkel, der weit entfernt beim Militär diente, holte meine Mutter und mich für sechs Monate zu sich. Erst später begriff ich, dass viele Freunde meiner Eltern, die am Reaktor zu Aufräumarbeiten eingesetzt waren, deshalb an Krebs gestorben sind.

Kindheit Das Jüdische spielte in meiner Kindheit keine große Rolle. Oma wusste zwar, wann Pessach oder Jom Kippur war, und Mutter kochte manchmal Gefilte Fisch – aber das war’s dann auch. Meine Eltern – Mutter Sekretärin, Vater technischer Angestellter – waren nicht reich. Wir lebten in einer Einzimmerwohnung, ich spielte mit meinen Freunden auf der Straße oder war am Fluss fischen. Viel mehr weiß ich nicht über diese Zeit. Für mich gibt es eine Art Linie, sie liegt in meinem zwölften Lebensjahr: Bis dahin lebte ich in der Ukraine, seitdem bin ich in Deutschland.

Dass wir 1997 mit Familie und Verwandten hierherkamen, hatte zwei Gründe: Zum einen wurden die wirtschaftlichen Verhältnisse immer schlechter. Mein Vater hatte sieben Monate keinen Lohn erhalten, wir lebten von dem wenigen Geld meiner Mutter. Und dann hatte mein Onkel, der während seiner Armeezeit auch in der DDR stationiert gewesen war, gesagt: »Dahin kann man getrost gehen.« Also gingen wir. Für mich als Kind war das ein absolutes Abenteuer.

Bad Pyrmont, Osterbruch bei Göttingen, schließlich Braunschweig. Für mich war alles neu: Ich hatte plötzlich ein eigenes Zimmer, wir wurden im Schulbus und auf dem Rückweg mit dem Taxi gefahren – mein Cousin und ich liebten das alles. Auf der anderen Seite war da die Sprachbarriere, wir verstanden ja zunächst kein Wort. Es gab wenige Einwanderer an der Schule, und an Worte und Sätze wie »Lieblingsjude« oder »Juden hasse ich – aber du bist okay« musste ich mich erst gewöhnen. Vielleicht ist all das auch der Grund, warum unser Kontakt zu den Gemeinden immer intensiv war. Auch der Religionsunterricht war etwas, auf das ich mich jede Woche gefreut habe.

Beschneidung Eigentlich wollte ich Koch oder Bäcker werden – aber meine Eltern bestanden darauf, dass ich zunächst Abitur mache. Danach war der Weg irgendwie vorgezeichnet. Mit meinen Eltern habe ich damals auch diskutiert, als es um die Frage der Beschneidung ging. Vater war einverstanden, Mutter strikt dagegen. Sie sagte, man kann auch so an Gott glauben. Aber ich wollte das unbedingt. Und so habe ich mit Freunden lange nach einer Möglichkeit gesucht.

Wir wollten es erst in München, dann in Stuttgart machen lassen. Aber es klappte nie. Dann sind wir nach Antwerpen gefahren und haben uns da beschneiden lassen. Insofern habe ich die gesamte Beschneidungsdebatte in Deutschland mit einem gewissen Schmunzeln verfolgt.

Ich betreibe im Gemeindezentrum einen kleinen Laden. »LeKoscher« heißt er. Zweimal die Woche öffne ich und biete alles an koscheren Lebensmitteln an, was man so braucht. Vor allem Fleisch, Wein und Traubensaft sind gefragt – schließlich wollen die Leute zum Schabbat ja auch was Ordentliches auf dem Tisch haben. Eigentlich entstand die Idee zu diesem Geschäft, weil es für Anna und mich immer ungeheuer aufwendig war, uns die Sachen aus Berlin zu besorgen. Heute ist der Laden auch so etwas wie ein Treff, wo viele Leute aus der Gemeinde immer mal hereinschauen.

Die schönste Bestätigung für das Geschäft habe ich im vergangenen Sommer erlebt: Für ein Länderspiel der israelischen Fußballnationalmannschaft gegen Deutschland wurde ein Caterer gesucht. Dass die Wahl auf mich fiel, war toll. So ein Auftrag könnte häufiger kommen, aber der Markt für koscheres Catering in Leipzig ist eben sehr überschaubar.

Logistik Neben meiner Arbeit im Laden bin ich seit 2008 technischer Direktor der »AM ECHAD« bei der Lauder Yeshurun. Wir veranstalten Machanot für Kinder und Jugendliche. Ich bin für die Logistik zuständig, meine Frau leitet das Programm. Die Vorbereitungen für das Sommercamp in Dänemark laufen bereits auf Hochtouren.

Bei mir ist jeder Tag voll ausgefüllt und hat einen festen Rahmen. Das ergibt sich schon aus den drei Gebeten. Um nicht viel Zeit durch lange Wege zu verlieren, haben wir uns vergangenes Jahr eine Wohnung gesucht, die nur zwei Minuten von der Gemeinde entfernt ist. Zwar ist sie etwas teurer als unsere alte Wohnung, aber das Leben ist dadurch entspannter.

In Leipzig religiös zu leben, ist nicht einfach. Was uns sehr beschäftigt, ist die Zukunft unseres Sohnes. Wir sagen immer, Ephraim Samuel soll es einmal leichter haben. Er soll von Anfang an in diesem jüdischen Umfeld aufwachsen. Doch in Leipzig gibt es keine jüdische Schule. Und auch wenn wir im Moment glücklich und zufrieden sind – in drei, vier Jahren werden wir vor einer wichtigen Entscheidung stehen: Wenn sich bis dahin nichts getan hat, müssen wir umziehen.

Aufgezeichnet von Steffen Reichert

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