Sie ist eine Frau der direkten Worte. »Ich weiß gar nicht, ob ich möchte, dass in der Zeitung ein Artikel über mich steht«, antwortet Rahel Renate Mann auf die Frage, ob ein Treffen und ein Bericht möglich wären. Sie ist 81, doch die Zeit ist knapp bei der Autorin, Psychotherapeutin, ehrenamtlichen Sterbebegleiterin und Zeitzeugin. Ein bisschen später meldet sie sich zurück: Am Sonntag habe sie noch zwei freie Stunden.
An diesem Tag scheint die Sonne in ihr Apartment in Berlin-Schöneberg. Bücher liegen in Stapeln auf den Regalen, Fotos von ihren Kindern, Enkeln, Urenkeln und ihren drei verstorbenen Männern sind aufgestellt, auf ihrem Schreibtisch liegen Papiere.
»Den Fernseher habe ich rausgeschmissen, der störte mich nur«, sagt Rahel Mann. Ebenso habe sie sich von allem, was sie nicht brauchte, getrennt. Die 81-Jährige weiß genau, was sie möchte, und legt auf Selbstdarstellung keinen Wert. Sie sagt ihre Meinung frei heraus und weiß, dass sie durchaus anecken kann – oder zum Nachdenken anregt.
kirche Am 27. Januar, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, wird Rahel Mann bei der Veranstaltung in der Apostel-Paulus-Kirche in Berlin um 17 Uhr über ihre Kindheit sprechen. Organisiert wird die Veranstaltung von den Mitarbeitern der Ausstellung Wir waren Nachbarn.
Der Pfarrer der Apostel-Paulus-Gemeinde versteckte das Mädchen.
So außergewöhnlich, wie Rahel Mann wirkt, ist auch ihre Geschichte, denn sie überlebte die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs und der Judenverfolgung ganz allein zwischen einer Schrank- und der Kellerwand in der Starnberger Straße 2 im Bayerischen Viertel. Da war sie sieben Jahre alt. »Alle fragen mich immer, ob ich mich da verlassen gefühlt habe, aber nein, ich fühlte mich geborgen«, sagt sie heute. Wenige Male brachte der Nachbar Wolfgang sie nach oben, und sie gingen durch die vom Krieg zerstörten Straßen. »Da sah ich die Leichen, die wimmernden Menschen, denen keiner half.« Im Keller dagegen sei es ihr gut gegangen.
Rahels Mutter, Milda Wolf, nannte sich Edith und war getaufte Jüdin. 1942 wurde sie in ein Konzentrationslager gebracht. Als ihre Tochter Rahel 1937 auf die Welt kam, war sie nicht verheiratet. Rahels Vater stammte aus Lemberg und wurde 1941 von den Nazis erschossen. Die Tochter hat ihn nie kennengelernt. Nach ihrer Geburt blieb Rahel ein halbes Jahr in einer Säuglingsklinik. Danach kam sie zu Pflegeeltern. Als sie dreieinhalb Jahre alt war, begannen die Deportationen der Juden. Ihre Mutter holte die Tochter bei den Pflegeeltern ab und nahm sie mit in ein sogenanntes Judenhaus. Ein halbes Zimmer in einer Zweieinhalbzimmerwohnung stand ihnen zur Verfügung.
Bevor Milda Wolf deportiert wurde, brachte sie ihre Tochter zu Pfarrer Eitel- Friedrich von Rabenau von der Apostel-Paulus-Gemeinde, aktives Mitglied der Bekennenden Kirche, der angeboten hatte, sich um sie zu kümmern. Er nahm das Mädchen bei sich auf und organisierte mit Frieda Anna Vater, der Hauswartin, dessen nahe Zukunft. Zuerst kam die Kleine zu einer Frau Seidel, als Spielgefährtin der eigenen Tochter. Doch sie fiel auf: zu krause Haare, immer still. »Ich hatte Angst«, erinnert sich Rahel Mann.
Laubenkolonie Daraufhin wurde sie zu einer Witwe gebracht, die mit ihr in der Laubenkolonie den Sommer verbrachte. »Ich erinnere mich immer gerne an die Holundersuppe mit Grießklößchen.« Im Herbst 1944 war klar, dass ein neues Versteck gebraucht wurde. »Es wollte mich allerdings keiner mehr.«
Also kümmerte sich Frieda Anna Vater, deren Ehemann ausgerechnet Blockwart und überzeugter Nazi war, um das Versteck im Keller. Zusammen mit dem Nachbarn Wolfgang schob sie den großen Schrank von der Wand weg, sie stapelten Stühle, Tische und Gerümpel drum herum.
Wolfgang kam oft und brachte ein Kinderbuch und Hefte zum Schreiben mit. Reihenweise übte sie so das Schreiben der Buchstaben. »Später hatte ich in der Schule eine wunderbare Schrift.« Im Versteck durfte das Mädchen keine Geräusche machen, sich nicht bewegen, nicht husten. Frau Vater brachte ihr Essen. »Wenn ich hörte, dass jemand die Treppe herunterstieg, traute ich mich kaum zu atmen.«
Im April 1945 durchsuchten dann ein paar Russen den Keller. »Der eine sah mich, zückte ein Familienfoto aus seiner Uniform. Dann nahm er mich auf den Arm und trug mich hoch.« Die Soldaten blieben in der Wohnung, und Rahel zog wieder ins halbe Zimmer ein. Ihre Mutter wurde von Russen zurückgebracht und erhielt später eine Entschädigungsrente und die ganze Wohnung in der Starnberger Straße 2.
Den Fernseher hat die 81-Jährige entsorgt: »Der störte mich nur.«
Immer wieder stellt sich Rahel nach Kriegsende die Frage, warum sie versteckt werden musste. »Ich dachte immer, weil ich unehelich bin.« Stutzig wird sie, als eine Postbotin ihr vorhält, sie sei »eine typische Jüdin«. Sie, die als Kind so still und schüchtern war, entwickelt große Energie, um herauszubekommen, was für eine Geschichte sie hat. Jeden befragt sie eindringlich. Ihre Mutter allerdings gibt ihr eine Ohrfeige statt Antworten.
Israel Später wird Rahel Mann Lehrerin, dann Heilpraktikerin und Psychotherapeutin. Andreas und Isabell heißen ihre Kinder aus der ersten Ehe. Mit 33 Jahren ist die Scheidung amtlich, und sie plant ihr Leben noch einmal neu. Sie eröffnet eine Praxis in Braunschweig. 1997 wandert sie nach Israel aus, zu ihrer Tochter.
Doch zehn Jahre später macht ihr die politische Situation in Israel zu schaffen – sie kehrt nach Berlin zurück. Dort engagiert sie sich bis heute für die Ausstellung Wir waren Nachbarn im Schöneberger Rathaus. »Heute fühle ich mich reich, ich habe eine Wohnung, gute Freunde, schreibe gerne und halte Vorträge zu Themen, die mich interessieren.«
Und dann zitiert die 81-Jährige spontan ein eigenes Gedicht: »Gestern – Gestern ging ich mit Kinderschuhen über Kriegsleichen;/morgen – morgen werde ich arbeitend die Zukunft versichern – scheinbar –/Heute – Heute unter dem Schutze des blauen, unendlich harmonischen Himmels, lebe ich, lebe ich ganz.«