Neulich habe ich mir im Radio drei Beethoven-Sinfonien angehört. Ich mag das Radio, einen Fernseher habe ich schon seit Langem nicht mehr. Das Programm war zuletzt im Jahr 1980 gut. Aber heute – diese Hast und Hässlichkeit! Ich lese jeden Tag Zeitungen, denn ich will wissen, was los ist. Die Menschheit kann nicht mehr gerettet werden, egal, wie viel sie auf großen Kongressen sitzt. Das Eis, auf dem wir wandeln, ist dünn. Ich bin froh, dass ich schon so alt bin.
Seit etwa anderthalb Jahren lebe ich im Elternheim der Kölner Synagogengemeinde. Eigentlich bin ich gesund, habe Energie. Bis vor Kurzem bin ich selbst einkaufen gegangen, und eine Putzfrau hat mir im Haushalt geholfen. Aber meine Wirbelsäule ist verschlissen. Wenn ich laufe, muss ich mich gerade halten, um nicht nach vorn zu fallen. Ich habe auch Schmerzen und brauche Hilfe, um die Stützstrümpfe anzuziehen. Weil ich nicht mehr allein leben konnte, ging ich ins Elternheim. Ein nichtjüdisches Altersheim kam nicht infrage – soll ich etwa mit alten Nazis am Tisch sitzen?
Aber auch hier bin ich nicht glücklich. Ein paar Möbelstücke und Bilder durfte ich mitnehmen, das macht das Zimmer etwas heimeliger. Doch ich kann kaum mit jemandem ein Wort wechseln. Die meisten sind dement, und die Pflegerinnen haben keine Zeit. Jeden Tag mache ich Gymnastik: eine Viertelstunde im Liegen, eine Viertelstunde im Stehen. Da muss ich mit mir selbst kämpfen. So bin ich noch einigermaßen fit.
Waggons Ich habe nie geglaubt, dass ich eines Tages in Deutschland leben würde – und doch bin ich schon seit 60 Jahren hier. Geboren wurde ich in einem Schtetl in Transsylvanien. Im Krieg hat man uns nach Auschwitz deportiert. Mein Vater ist über Nacht alt geworden. Vier Tage und vier Nächte in diesen Waggons, was hat man gegessen, was hat man den Kindern gegeben – ich weiß es nicht! Ein Rabbi saß da und betete die ganze Zeit Psalmen – und was hat es geholfen? Ein Stoßen und ein Drängen, ich habe mich nur an meiner Mutter festgehalten. Ein Wachmann riss mich weg. Ich habe niemanden wiedergesehen.
Wenn ich das erzähle, wird mir die Nase dicht, und das Atmen fällt mir schwer. Man glaubt, ich hätte eine Erkältung, aber das ist nervlich bedingt. Nach der Befreiung aus Auschwitz ist jeder dorthin gegangen, woher er stammte. Ich bin im August im Schtetl angekommen: die Häuser alle leer. Ich ging von einem Hof zum anderen, habe geweint und gerufen. Ich wollte nicht mehr dort leben. Ich war die Erste, die wegging. Andere sind geblieben, haben geheiratet. Man wollte leben, Kinder haben. Ich bin mitten im Winter weggegangen. Ich hatte 70 Dollar, um die Schlepper zu bezahlen, die uns über die ungarische Grenze brachten. Fast erfroren kamen wir in Budapest an. Ich wollte nach Israel zu meiner Schwester. Von Ungarn aus habe ich mich nach Österreich und dann nach Italien durchgeschlagen. Dort wartete ich ein Jahr lang auf ein Schiff.
Dabei habe ich meinen Mann David kennengelernt. Er gehörte zu einer Gruppe polnischer und russischer Juden, die im Krieg Partisanen waren. Die hielten zusammen und wollten alle nach Israel. Endlich kam ein Schiff aus Schweden, beladen mit Auswanderern. Aber die Engländer wollten uns nicht ins Land lassen, wir mussten ein Jahr in einem Lager auf Zypern verbringen.
staatsgründung 1948 durften wir nach Israel, im Jahr der Staatsgründung. Wir waren in Zelten untergebracht, nur unser kleiner Sohn hatte mit anderen Kleinkindern ein Dach überm Kopf. Mein Mann war Tischler, er hat schnell Arbeit in einer Fabrik gefunden. Wir hatten in Ramat Gan eine kleine Wohnung mit Balkon und waren glücklich.
Dann bekam unser zweites Kind Polyarthritis und litt schreckliche Schmerzen. In Israel konnte man nicht helfen. Da las ich in einer Zeitung von einer Klinik in Garmisch-Partenkirchen, die diese Krankheit behandelte. Ich musste nach Deutschland, um meine Tochter zu retten. Sie blieb dann ein Jahr lang in dieser Klinik.
Später ist dann mein Mann mit unserem Sohn nachgekommen. David fand Arbeit bei der Israel-Mission in Köln, später war er bei einer Versicherung. Und ich kümmerte mich um unsere Tochter. Sie ging in die Schule, aufs Gymnasium, hat sogar angefangen zu studieren. Aber wegen des vielen Kortisons hörte sie auf zu wachsen. Sie war sehr klug und beliebt. Die letzte Zeit saß sie im Rollstuhl. Sie hat nur 24 Jahre gelebt.
Um die Trauer zu überwinden, habe ich mir eine Arbeit gesucht. Eine Freundin vermittelte mir eine Stelle. Ich arbeitete als Aushilfe in verschiedenen Frauenhäusern. Das kann man nur, wenn man alleinstehend ist. Zu dieser Zeit war ich schon Witwe. Mein Mann war kurz nach meiner Tochter an einem Herzinfarkt gestorben.
Als ich nach sieben Jahren nicht mehr konnte, habe ich gekündigt und fing an zu reisen. Ich habe Europa bis zum Polarkreis umrundet, und in Amerika war ich wochenlang mit dem Bus unterwegs. Überall habe ich Freunde aus unserem Schtetl besucht. Es waren nicht viele übrig geblieben. Ich hatte so eine Sehnsucht nach unserem Schtetl und unserem früheren Leben!
Wertpapiere Mein Mann und ich hatten nicht viel Geld, aber unsere Ersparnisse und meine »Wiedergutmachung« hatte mein Mann in Wertpapiere investiert, die vor allem Infrastrukturprojekte finanzierten. Wir haben ganz klein angefangen, mit 2000 Mark für den Bau von Autobahnen in Spanien. Für zwei Prozent Zinsen! Mein Mann wollte damals meine Meinung dazu hören. Ich habe abgewehrt: David, lass mich damit in Ruhe! Ich verstehe nichts davon, und habe auch keine Geduld.
Aber nach seinem frühen Tod musste ich mich damit befassen – eine Frau, die niemals Geschäfte gemacht hat. Man glaubt es kaum, aber ich hatte ein gutes Händchen! Ich habe immer Zeitungen gelesen, interessierte mich, was in der Welt geschieht. Und so schaute ich, welche Papiere von welchem Land ich besitze, wie sich dieses Land wirtschaftlich entwickelt, und habe entsprechend gehandelt.
Die Gewinne habe ich nicht für mich behalten. Einen Teil hat mein Sohn bekommen, und einen Teil habe ich gespendet. Dem Jüdischen Nationalfonds habe ich 2000 Bäume im Andenken an meine Tochter Rivka und an meinen Mann geschenkt. Und 1000 Bäume habe ich im Andenken an Heinrich Heine gespendet. Er ist mein Freund. Er hat mir geholfen, als ich allein war und nächtelang nicht schlafen konnte. Da habe ich Heine gelesen, das hat mir sehr viel gegeben.
Ich dachte, aus meinen Bäumen wird ein kleines Wäldchen. Aber das hat der Nationalfonds nicht gemacht, was mich etwas enttäuscht hat. Deshalb habe ich fortan für die Kinder-Aliyah gespendet. Ein technisches Labor an einer Schule in Ramla und ein elektrisches Labor an einer Schule in Netanja wurden mit meinem Geld ausgestattet, und die äthiopische Gemeinde von Ramla bekam eine Torarolle.
Kleider Ich selbst brauche nicht mehr viel. Ich trage das, was ich mit 50 anhatte: niemals Jeans, fast nur Kleider und Röcke. Seit es auf der ganzen Welt fast überall das gleiche Essen und die gleiche Kleidung gibt, habe ich nichts Neues mehr gekauft. Ich kann diese Dinge nicht anschauen. Doch die alten Sachen, die wollen alle sehen. Ich kann nicht in die Synagoge gehen, ohne dass die Menschen mich anhalten und mir Komplimente machen: »Sie strahlen etwas aus!« Was soll ich mit knapp 89 Jahren ausstrahlen? Als ich jung war, wurde ich nicht so bewundert.
Jeden Morgen gehe ich nach dem Frühstück im Park spazieren. Dabei habe ich zum Beispiel eine Psychoanalytikerin, eine Musiklehrerin und andere nette Menschen kennengelernt. Vor Kurzem wartete ich auf die Straßenbahn. Da kam eine Mutter mit zwei kleinen Mädchen vorbei. Das eine war etwa drei Jahre alt, das andere saß noch im Kinderwagen. Die Ältere guckte mich an, gab mir ihr Spielzeug, ich reichte es ihr zurück, und so freuten wir uns. Sie schaute mir nach und winkte, bis die Straßenbahn nicht mehr zu sehen war. Das war ein Erlebnis!
Aufgezeichnet von Matilda Jordanova-Duda