Selbst ein Medienprofi kann vor Publikum nervös werden. So erging es auch Dieter Graumann, dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, als er auf der Bühne des Ignatz-Bubis-Gemeindezentrums in Frankfurt aus seinem Buch Nachgeboren – vorbelastet? Die Zukunft des Judentums in Deutschland las. »Normalerweise stelle ich hier die Autoren vor«, sagte der Frankfurter bei seinem Heimspiel, »und heute sitze ich nun selbst hier und fühle mich ein bisschen ausgeliefert.«
Zu befürchten hatte Graumann freilich nichts. Rachel Salamander, Journalistin und Herausgeberin der »Literarischen Welt«, stellte ihn und sein Buch mit respektvoller Zuneigung vor. Beide präsentierten sich als eingespieltes Duo und warfen sich im Gespräch die Bälle mit Eloquenz zu.
Vaterfigur Für Graumann war die Vorstellung seiner Lebensgeschichte dennoch keine Routine: Er ließ die Zuhörer an seinem Gefühlsleben teilhaben, wie es nur ganz wenige Autoren wagen. So wurde an dem Abend auch deutlich, warum Ignatz Bubis sel. A. immer gegenwärtig scheint, wenn Graumann die Bühne betritt: Bubis war nicht nur sein politischer Mentor, er war zugleich eine Art zweiter Vater.
Denn er zollte dem heutigen Zentralratschef die Anerkennung für sein politisches Engagement, die Graumann von seinem kürzlich verstorbenen Vater nie bekommen hatte. Es war wohl der bewegendste Moment des Abends, als Graumann erzählte, wie er es im November 2010 – als damals 60-Jähriger – nur mit Unterstützung seiner Frau und seiner Kinder »wagte«, seinen Eltern von der Wahl zum Präsidenten des Zentralrats zu berichten.
Der Vater schimpfte und weinte. Geprägt von der Schoa hätte er seinen Sohn, den er bei der Einschulung aus Angst vor antisemitischen Ressentiments vom David zum Dieter gemacht hatte, lieber im Hintergrund gesehen.
Wiedererkennen Doch trotz dieser Vorbelastung ging Graumann seinen Weg. Und viele Zuhörer folgten ihm an diesem Abend. »Ich habe mich in zahlreichen persönlichen Erlebnissen, die Graumann in seinem Buch beschreibt, wiedergefunden«, bekannte etwa Diana Schnabel, die Deutschland-Präsidentin der weltweiten zionistischen Frauenorganisation WIZO. »Er spricht uns auf eine sehr emotionale Weise aus der Seele.«
Auch der Oberbürgermeister der Mainmetropole, Peter Feldmann, ging mit auf Zeitreise. Etwa, als Graumann von seinem »Erweckungserlebnis« sprach, nämlich den Protesten gegen die Aufführung des Fassbinder-Stücks Der Müll, die Stadt und der Tod. Auch Feldmann hatte 1985 demonstriert. Er habe in der Stadt Ähnliches wie Dieter Graumann erlebt. Allerdings mit »viel mehr Distanz«, denn er sei säkular erzogen worden, ergänzt Feldmann.
Verlängerung Für den Auftritt in seiner Heimatstadt hatte Graumann seiner Lesung eine »Frankfurter Verlängerung« angehängt: Anekdoten aus 16 Jahren Amtszeit als Schuldezernent der Gemeinde. Dieses Amt habe er nur schweren Herzens aufgegeben. Denn er sei persönlich stolz darauf, dass die Lichtigfeld-Schule wieder ins Philanthropin zurückgekehrt sei. »Das ist die spektakulärste und eindrucksvollste jüdische Schule in ganz Deutschland.«
»Bei der Eröffnung in der Aula habe ich mich erinnert, wann ich zum letzten Mal auf dieser Bühne gestanden habe: Da war ich selbst noch im Kindergarten und bin dort als Marienkäfer herumgekrabbelt. Und dachte stolz: ›Vom Marienkäfer zum Schuldezernenten, das ist doch was.‹«