Es ist Freitagnachmittag. Mauricio-Andrés kommt von einem langen Schultag nach Hause. Der Neunjährige geht in die vierte Klasse der Heinz-Galinski-Schule in Charlottenburg. Seine Lehrerin, Soraya Koziner, hat der Klasse übers Wochenende eine Hausaufgabe aufgegeben: »Fragt eure Großeltern, was sie 1940 gemacht haben.«
Bei einer Familienfeier am nächsten Tag kann Mauricio-Andrés gleich nachhaken. Sein Opa antwortet: »Ich war im Kinderheim. Mein Onkel Hermann Sztainberg kam ins KZ nach Auschwitz.« Seine Oma erzählt: »Wir mussten weg aus Polen und haben uns in Görlitz und in der Umgebung von Dresden versteckt.« Als sie das erzählt, fängt sie an zu weinen.
Seine chilenische Oma sagt: »Ich hatte eine Schulfreundin, Ruth Clara Grünberg. Sie kam aus Berlin, und ich habe für sie ein Gedicht geschrieben.« Sie liest es auf Spanisch vor. Mauricio-Andrés hat genug Stoff für seine Hausaufgabe. Für seine Eltern jedoch fängt die Geschichte gerade erst an.
Dieses Treffen in der Wohnung der Familie Poser in der Charlottenburger Leibnizstraße liegt mittlerweile sechs Jahre zurück. Mauricio-Andrés ist inzwischen 15 Jahre alt und besucht die Friedensburg-Oberschule um die Ecke, seine ehemalige Lehrerin Soraya Koziner ist Direktorin der Heinz-Ga-linski-Schule. Keiner von ihnen hat damals ahnen können, welche Auswirkung diese kleine Hausaufgabe für die Familie Poser haben würde.
gedicht »Das Gedicht meiner Schwiegermutter hat mich sehr bewegt«, sagt André Poser rückblickend. Die ihr unbekannte Geschichte von deren alter Schulfreundin habe ihn nicht mehr losgelassen. Wer war diese Ruth Clara Grünberg? Und wer war dieser ominöse Großonkel Hermann Sztainberg, von dem Posers Vater niemals zuvor etwas erzählt hatte? Gleich nach der Familienfeier begann er mit seinen Recherchen.
André Poser, Jahrgang 1972, ist gebürtiger Potsdamer. Seit Jahren arbeitet er als Oberbeleuchter beim Film. Seine Frau Celia stammt aus Chile. Mit ihrer Mutter fand sie als kleines Kind in der damaligen DDR ein neues Zuhause – auf der Flucht vor der Militärdiktatur General Pinochets.
André und Celia haben zwei Kinder, Mauricio-Andrés und die acht Jahre alte Marie-Clara Cecilia. Judentum und jüdische Identität spielten bis dahin keine Rolle in ihrer beider Leben: André wurde protestantisch, Celia katholisch erzogen. Dass Mauricio-Andrés auf die Heinz-Galinski-Schule ging, war reiner Zufall – die Schule lag im Einzugsgebiet der Posers. »Mit dem Judentum hatte uns als Familie bis zu diesem Wochenende vor sechs Jahren nichts verbunden«, sagt André. Doch Soraya Koziners Aufgabenstellung hat alles verändert.
Archive Auf der Suche nach Informationen zu den Schicksalen von Ruth Clara Grünberg und Hermann Sztainberg machte sich Poser daran, Archive zu durchstöbern, Bücher zu wälzen, Botschaften, internationale Organisationen und Institutionen anzuschreiben.
Die Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum gab ihm im Fall Ruth Clara Grünberg schließlich den entscheidenden Hinweis: Ruths Vater, Max Hans Grünberg, liegt auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee begraben. Die Familie hatte ihre Heimat Berlin 1933 verlassen und war über Belgien, Spanien, die Schweiz und Italien nach Chile ausgewandert. Indem er sich mit dem Schicksal dieser jüdischen Emigrantenfamilie befasste, habe er sich zum ersten Mal in seinem Leben mit der Schoa auseinandergesetzt, sagt der 44-Jährige.
Bald schon stellte er fest, dass die Schoa auch ein Teil seiner eigenen Familiengeschichte ist. Denn nach intensiver Recherchearbeit konnte André mehr und mehr Informationen über Hermann Sztainberg zusammentragen: Aus den Archiven in Auschwitz erfuhr André Poser, dass sein Onkel am 17. Mai 1943 in dem Vernichtungslager angekommen war und die Häftlingsnummer 122384 erhalten hatte. Nur wenige Monate später, am 30. Oktober 1943, starb er im Häftlingskrankenbau aufgrund mehrerer operativer Eingriffe – man hatte medizinische Experimente an ihm durchgeführt.
cousinen »In Argentinien habe ich Kontakt zu meinen beiden Cousinen Haydee und Liliana Sztainberg aufgenommen – es war eine überaus emotionale Begegnung, als ich die beiden zum ersten Mal in Buenos Aires getroffen habe«, erzählt Poser mit ruhiger Stimme. Seine Cousinen und er sähen sich ein bisschen ähnlich, meint er. Aus einer Akte kramt er ein Foto heraus. Darauf ist er zusammen mit Haydee in einem mit Palmen bepflanzten Park in der argentinischen Hauptstadt zu sehen. Über die beiden Frauen hat er Kontakt zu weiteren Familienangehörigen in den USA und Israel aufgenommen. Demnächst will er auch sie besuchen.
André Posers Schwiegermutter, Maria Antonia Gonzales Cabezas, bewundert seine Spurensuche. »Andrés Engagement ist sehr wichtig für unsere Familie«, sagt die 85-Jährige. Auch auf die alte Dame blieb sie nicht ohne Auswirkungen: Aufgrund des Engagements ihres Schwiegersohnes brach sie schließlich ihr eigenes, lange gehütetes Schweigen.
Auch sie und Celia haben jüdische Wurzeln. Sie entstammen einer sefardischen Familie, die im 18. Jahrhundert aus Spanien nach Chile ausgewandert ist: als »Conversos« – Juden, die offiziell zum Katholizismus übergetreten waren und ihr Judentum nur heimlich weiter pflegen konnten. Auch wenn die Religion für sie nie eine große Rolle gespielt habe, sei sie sich ihres Judentums stets bewusst gewesen, bekennt Maria Antonia.
material Mit diesen neuen Erkenntnissen hat André Poser seither seine Spurensuche auch auf Spanien ausgedehnt. Mit den dortigen Behörden steht er in Kontakt, um weitere Informationen über die Ursprünge der Familie Gonzales Cabezas herauszufinden.
»Mit der Zeit habe ich eine jüdische Identität entwickelt. Die gestohlene jüdische Vielfalt lebt in uns weiter, und ich möchte sie ans Licht bringen«, begründet Poser sein Engagement und die Ideen für weitere Projekte, die sich mittlerweile daraus entwickelt haben. In Chile, Uruguay und Argentinien hat er im vergangenen Sommer mit Schoa-Überlebenden gesprochen und ihre Lebensgeschichten filmisch festgehalten. Daraus möchte er eine kleine Dokumentation erstellen.
Ein weiteres seiner Projekte ist die Verfilmung der Familiengeschichte der Grünbergs – entweder als Dokumentation oder als Spielfilm. Fest steht: Mauricio-Andrés’ Hausaufgabe aus der vierten Klasse steht am Anfang der Erzählung. Und den Film will er zuerst an der Heinz-Galinski-Schule zeigen, damit Lehrer und Schüler dort erfahren, welche weitreichenden Folgen eine Hausaufgabe mit einer einzigen Frage haben kann.