Der Computer surrt. Noch rasch eine Mail verschicken, dann ist Lea Oelsner fertig und will sich schnell auf ihren Weg machen. »Der Begriff Rentner kommt von Rennen«, sagt die 85-Jährige. Sie muss aber nicht laufen, sondern hat noch genug Zeit, um rechtzeitig zum Gedächtnistraining ins Jeanette-Wolff-Heim zu kommen. Schließlich sind es nur wenige Meter Entfernung. Zuvor war sie bereits in dem Seminarraum, hatte Blumen mit roten Blüten, Wasserkaraffen und Gläser bereitgestellt.
Seit einigen Wochen bietet sie ein Training für die grauen Zellen an. »Es ist wichtig, in Übung zu bleiben, ebenso, dass ältere Menschen aus ihren eigenen vier Wänden heraus kommen und andere treffen«, meint sie.
Bewegung Meistens kommen etwa sechs Damen und ein Herr. Sie begrüßen sich und setzten sich dann an den großen Tisch. Sigrid Wolff, Leiterin des Seniorenzentrums, war von der Idee, ein solches Programm für die Bewohner anzubieten, sofort begeistert. Zumal das Gedächtnistraining mit einer Gymnastikgruppe kooperiert. Teilnehmen können alle, die möchten, und zwar unentgeltlich. Die meisten leben im betreuten Wohnen, das seit einigen Jahren im Seniorenheim und im Leo-Baeck-Wohnhaus in der Herbartstraße angeboten wird.
Auf einer Tafel hat Lea Oelsner geschrieben: »Alt machen nicht die Jahre, alt machen nicht die grauen Haare, alt ist, wer den Mut verliert und sich für nichts mehr interessiert.« Das könnte auch ihr Motto sein. Los geht es mit Dehn- und Streckübungen. »Richtig tief durchatmen«, fordert sie die anderen auf und macht selbst alles vor.
Seit etwa 25 Jahren engagiert sich die 85-Jährige in der Seniorenarbeit. Mit ihrem mittlerweile verstorbenen Ehemann, Peter Oelsner, der früher Jugendreferent in der Gemeinde war, fuhr sie vor einigen Jahrzehnten nach Bad Sobernheim und Bad Kissingen, um dort die Senioren mit zu betreuen und Gruppen mit zu leiten. In Berlin unterstützte sie ihren Mann, als er den Seniorenclub Achva gründete und lenkte. Schon damals hatte sie sich auch in das Gedächtnistraining eingearbeitet und fortgebildet. Geboren wurde Lea Oelsner in Wuppertal, aber bereits als Kind ist sie nach Palästina emigriert und hat dort ihre »wichtigste Zeit« erlebt.
Zusammen mit ihrem Mann sei sie in Sachen Jugendarbeit nach Frankfurt, Paris und wieder Frankfurt an die Gemeinden geschickt worden. 1975 fragte die Jüdische Gemeinde bei Peter Oelsner an, ob er nach Berlin kommen könnte, um das Jugendzentrum zu leiten. Was auch geschah. Lea Oelsner ist zwar ausgebildete Schneiderin, arbeitete aber als Bankkauffrau und Sekretärin und schließlich in einem Juweliergeschäft. Mindestens zweimal im Jahr fährt sie nach Israel. Überhaupt reise sie gerne und mag es, mit Menschen zusammen zu sein. Es gebe 100 Sachen, die man machen müsse, eine davon sei, Kontakte zu halten, meint sie.
Zahlen Aus ihrem Ordner holt sie nun Papiere heraus und verteilt sie. »Ich habe ganze Schränke voll mit Material.« Mehrere Zahlenreihen stehen darauf. Aus ihnen sollen die Teilnehmer bestimmte Ziffern heraussuchen und addieren.
Am Anfang müssen sie sich nur die Nummer drei merken, am Ende kommen noch zwei, vier und neun dazu. Keiner sagt mehr etwas, alle schauen konzentriert auf den Bogen. Nach einigen Minuten gehen die Köpfe nach oben. »Dann wollen wir mal vergleichen«, sagt Frau Oelsner. »Lies doch bitte mal die Ergebnisse vor.« Manche haben alles richtig, andere einige Fehler. Das spielt aber überhaupt keine Rolle. Wichtig ist Lea Oelsner nur, dass sich jeder anstrengt und sein Bestes gibt.
Plötzlich holt sie Blätter aus ihrer Tasche hervor. Nur ein Wort steht auf jedem Blatt: Baumeister. »Beim letzten Mal haben wir aus den Silben elf oder zwölf Wörter gebildet«, sagt sie. Nun sollen aus den einzelnen Buchstaben Wörter entstehen. »Maus, Reise, Meise, Rest«, sagt eine Dame, »Muster, Sturm, Eis, Erste, Ester, Bus, Brause«, eine andere.
Lea Oelsner schreibt die Wörter alle an die Tafel. Zum Schluss werden es mehr als 60 sein. »Ich weiß nicht warum, aber ich möchte anderen etwas geben«, sagt die 85-Jährige. Das sei ihre Lebenseinstellung. Gerade ältere Menschen würden sich schnell überfordert fühlen und mit ihnen müsste einfühlsam umgegangen werden. Sie legt wieder Papiere auf den Tisch. Formen sind diesmal abgebildet. »Bitte prägt sie Euch ein, denn diese Aufgabe ist gut fürs Gehirn. Hier werden verschiedene Seiten des Gehirns aktiviert.«
Auch die Teilnehmer sind begeistert: »Ich freue mich immer auf diese Stunde«, meint eine Dame. »Anschließend bin ich immer fit für den Tag.« Oelsner hat gleich noch eine Verabredung. Sie will mit einer Freundin die Tageszeitung lesen und diskutieren – vielleicht lässt sich darin ein Thema für die nächste Gruppe finden.