Es ist Mittwochabend, 18 Uhr. Stille liegt in den Fluren des jüdischen Gemeindezentrums in Darmstadt. Nur im großen Festsaal mit seinem Piano neben der Bühne zieht mit jeder Minute mehr Leben ein. Eine halbe Stunde noch, dann wird Chorleiterin Aviva Steinitz mit ihrer Chorprobe beginnen. Schon da ist ihr wichtigster Mann des Abends, »ein Genie« wie ihn Aviva Steinitz nennt. Volodymyr Zaltsman ist nicht nur der Pianist, er ist für das Arrangement aller Musikdarbietungen verantwortlich, wenn Aviva Steinitz eine Idee hat, setzt er sie um. Im Chor mitzusingen, ist für den 57-Jährigen, der Jazzmusik, Volksmusik und Pop liebt, Klassik hingegen gar nicht mag, »ein guter Zustand«. Das Besondere am Darmstädter Gemeindechor? »Unsere Spezialität sind Lieder auf Hebräisch«, sagt der gebürtige Ukrainer. Ab und an stehen beim Auftritt aber auch jiddische Lieder auf dem Programm. Eines haben die Sängerinnen und Sänger auf Russisch einstudiert.
Trost Bis auf wenige Ausnahmen stammen die mehr als 20 Chormitglieder wie ihr Pianist aus der ehemaligen Sowjetunion. Die regelmäßigen Chortreffen haben vor allem einen Hintergrund: Sie sollen dabei helfen, sich in der neuen deutschen Heimat wohl- und geborgen zu fühlen. Gemeinsam etwas zu erschaffen und nicht zuletzt über das Hebräische mit dem Judentum vertrauter zu werden. Und manchmal helfen die gemeinsamen Singnachmittage auch bei persönlichen Krisen. Wie bei Nina Farforak. Der 59-jährigen Fußpflegerin hat das Singen im Chor über den Verlust ihres vor einem Jahr verstorbenen Mannes hinweggeholfen. »Aviva sagte damals zu mir: ›Du musst singen kommen‹«, erinnert sie sich, »und es hat meiner Seele wirklich gutgetan.«
Die meisten Auftritte hat der Chor an den Hohen Feiertagen. Auch jede andere jüdische Gemeinde kann ihn buchen. Zu schwarzen Röcken und Hosen tragen die Sängerinnen und Sänger bei ihren Auftritten weiße Blusen und Hemden, ein blaues Tuch: die Farben Israels. Dann haben alle ihr kleines schwarzes Ringbuch mit den Texten dabei. Ein Lied heißt »Sisu wesimechn«. Ein paar Chormitglieder überlegen, was das heißt. »Na Halligalli machen«, sagt schließlich Hanh Ensinger. Die 70-jährige ehemalige Krankenschwester kam vor 18 Jahren aus Israel nach Deutschland. Jeden Mittwoch macht sie sich von Michelstadt aus auf den Weg zur Probe.
Verbundenheit Dass der Chor vor allem Lieder auf Hebräisch, ihrer Heimatsprache, singt, hat sie anfangs ganz besonders berührt. »Mein Herz ist geschmolzen, ich hatte Tränen in meinen Augen, war sehr aufgeregt«. Hanh Ensinger sieht sich als Helfende, unterstützt bei der richtigen Aussprache, sie beschreibt es so: »Ich gebe den Ton vor, der die anderen leitet«. Das Zusammensein empfindet sie als Bereicherung und ihre Mitsänger aus der ehemaligen Sowjetunion »als unglaublich liebe Menschen«. Von einem ist sie ganz fest überzeugt: »Die Musik bringt uns zusammen«. Während der Busfahrt zum letzten großen Konzert in Bad Kissingen hat der Chor zwei Stunden lang russische Lieder gesungen. »Der Busfahrer hatte keine Chance einzuschlafen«, sagt Hanh Ensinger und alle mussten lachen.
Auch Thomas Martin singt im Chor. Seine Familie mütterlicherseits ist jüdisch. Martin liebt Hebräisch und findet, dass es eine sehr logische Sprache ist: »Mathematisch aufgebaut, am Wortstamm orientiert«. Im Chor fühlt er sich wohl, nur von Zeit zu Zeit da fehle ihm die Disziplin, manchmal sei da »ein bisschen zu viel Gegickel«.
Botschafter Für ihre Gruppe ist Aviva Steinitz, die den Darmstädter Gemeindechor seit sechs Jahren leitet und außerdem jüdische Religion lehrt, »eine Botschafterin Israels und des Judentums«. Sie selber kam vor mehr als 20 Jahren aus Israel nach Deutschland.
Das rund 30 Lieder umfassende Repertoire besteht aus traditionellen wie modernen israelischen Liedern, aus Psalmen und Gebeten. Einmal schon ist der Chor zusammen mit der Gemeinde-Tanzgruppe »Jofé« aufgetreten. Es war ein Erfolg und auch in Zukunft will man gemeinsam arbeiten.
Den schönsten Beweis dafür, dass das gemeinsame Singen glücklich machen und zur Integration beitragen kann, liefert Ludmilla Engel. Die 59-jährige Leiterin des Seniorenclubs Shalom kam vor 14 Jahren aus Moldawien nach Darmstadt. Die Blondine mit dem schwarzen Pailettenhaarreif strahlt, wenn sie von sich selbst sagt: »Ich bin eingebürgert und jetzt eine deutsche Frau«.