Die Stuttgarter Gemeinde braucht eine neue Torarolle. In einem Spendenaufruf wendet sich der Bürgermeister für Recht, Sicherheit und Ordnung und Schirmherr des Projekts, Martin Schairer, an die Zivilgesellschaft der baden-württembergischen Landeshauptstadt. »Es ist für mich eine Ehre, als Vertreter der Stuttgarter Bürgerschaft die Schirmherrschaft übernehmen zu dürfen, denn so können wir zeigen, dass die Menschen in der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg zu unserer Stadt gehören«, sagte er zum Auftakt des Spendenprojekts.
Der Weg sei das Ziel: »Die Bürger sollen nicht nur Geld geben, sondern sich damit befassen, was eine Torarolle ist und wofür sie im jüdischen Gottesdienst gebraucht wird«, so der Schirmherr. Als langjähriger Polizeipräsident und heutiger Bürgermeister der Stadt sowie Vorstandssprecher der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Stuttgart (GCJZ) ist Schairer der IRGW seit Langem verbunden; eine Torarolle aber hatte er so nah noch nie gesehen.
Federkiel Interessiert lässt sich der Protestant in der kleinen Synagoge der IRGW von Michael Kashi die Besonderheit einer Torarolle erklären und bewundert die Feinheit des handgeschriebenen Textes. »Tora bedeutet auf Hebräisch Weisung und enthält nach jüdischer Überlieferung Gottes Wort«, erklärt Michael Kashi, Vorstandsmitglied der Repräsentanz der IRGW. Dass die fünf Bücher Mose bis heute vom Sofer, einem ausgebildeten Toraschreiber, mit einem Federkiel per Hand geschrieben werden, habe vor allem mit der Tradition zu tun, sagt Kashi.
Freilich sei die Erfindung des Buchdrucks an den jüdischen Gemeinden nicht vorbeigegangen, die fünf Bücher Mose gebe es auch in gedruckter Form, aber eher für den Hausgebrauch. Für den Gottesdienst würden nach wie vor handgeschriebene Rollen verwendet. »Ist auch nur ein Buchstabe an einer Torarolle beschädigt, ist sie nicht mehr koscher und kann für den Gottesdienst nicht mehr verwendet werden«, erklärt Barbara Traub dem Bürgermeister. »Wir haben mehrere Rollen, auf die das zutrifft«, fügt die Vorstandssprecherin der IRGW hinzu.
Die IRGW ist die siebtgrößte Gemeinde Deutschlands. In den zurückliegenden Jahren konnte die 3000 Mitglieder starke Gemeinde wichtige Wegmarken nehmen: den Bau des Betreuten Seniorenwohnens, die Wiedereröffnung einer Grundschule, den Abschluss des Staatsvertrages mit dem Land Baden-Württemberg, die Eröffnung von zwei Gemeindezentren in Esslingen und Ulm, den Neubau der Kindertagestätte in Stuttgart.
tradition Erst 2016 wurde in Esslingen und 2017 in Ulm mit Unterstützung der Bürgerschaft jeweils eine neue Torarolle eingebracht. Nun also Stuttgart. »Die Beispiele in Esslingen und Ulm haben gezeigt, dass die Bürger sehr wohl am jüdischen Leben interessiert sind«, sagt Barbara Traub.
»Wir könnten uns leisten, eine neue Torarolle zu kaufen, das ist nicht das Problem, zumal nicht bei den niedrigen Zinsen«, so Traub. Wenn aber Nichtjuden am Leben von Juden teilnehmen, so sei das »gut für alle«, sagt Traub. Es sei sehr ehrenvoll, eine Torarolle zu spenden. Diese Tradition wolle man beibehalten, aber mit einem neuen Aspekt versehen: dass sich die Bürgerschaft das Anliegen der IRGW zu eigen macht.
Als Vorbild für Stuttgart gelten Esslingen und Ulm. Tatsächlich waren sowohl das Schreiben der letzten Buchstaben der Esslinger und Ulmer Torarolle in den Rathäusern als auch die anschließenden Umzüge bis zum Einbringen in den Schrein der jeweiligen Synagogen ein Ereignis, das weit über die Städte hinaus ein Echo fand.
33.000 Euro soll die Stuttgarter Torarolle kosten. »Wir hoffen, dass wir das Geld in spätestens einem Jahr zusammenhaben«, sagt Bürgermeister Schairer hoffnungsvoll. Inzwischen wurde der Spendenaufruf beim Rat der Religionen vorgetragen – er spiegelt die breite Vielfalt der Religionen in Stuttgart wider. In ihm sind neben der IRGW Mitglieder christlicher Kirchen, muslimischer, alevitischer und buddhistischer Gemeinschaften sowie der Bahai vertreten. »Unser Anliegen wurde positiv angenommen«, berichtet Susanne Jakubowski, Vorstandsmitglied der IRGW.