Die Mutter hat eisern geschwiegen, und auch die Tante hat nie etwas gesagt. »Erst vor wenigen Jahren haben wir erfahren, dass unsere Familie mütterlicherseits aus Frankfurt stammt und unsere Großeltern von den Nazis umgebracht wurden«, sagen Mark und Steven Novins. Die beiden, 1963 und 1966 geboren, sind waschechte Kalifornier – und fühlen sich seit Kurzem auch ein wenig als Frankfurter.
Denn sie sind auf Einladung der Stadt zu den Wurzeln ihrer Familie zurückgekehrt, auf eine Erkundungs- und Entdeckungstour in die eigene Biografie. Seit 1980 lädt die Mainmetropole jüdische sowie politisch oder religiös verfolgte ehemalige Bürger in ihre Heimatstadt ein. Bislang sind etwa 3500 Personen aus aller Welt der Einladung gefolgt.
Zweite Generation Auf manche Fragen haben die Novins-Brüder bei ihrem knapp einwöchigen Aufenthalt am Main zwar keine Antworten gefunden, doch die Spurensuche hat für sie gerade erst begonnen. »Unsere Mutter selbst wollte nicht über die Vergangenheit sprechen. Aber sie hat vor Jahren einmal an dem Besuchsprogramm teilgenommen und uns auf die Liste potenzieller Gäste setzen lassen«, erzählt Steven. Seit 2012 ist das Programm auch für die Angehörigen der zweiten Generation geöffnet.
Was Mark und Steven, begleitet von Marks Sohn Trevor, über ihre Verwandten herausgefunden haben, berichteten sie den Neuntklässlern der I.E.-Lichtigfeld-Schule. Das Schülergespräch am Philanthropin gehörte ebenfalls zum Besuchsprogramm. »Ich freue mich, dass für uns genau diese Schule ausgesucht wurde«, sagt Steven, »denn mein Großvater war hier Sportlehrer. Vielleicht hat er einmal genau in diesem Raum gestanden, in dem wir jetzt stehen!«
Stevens Großvater hieß Emil Gustav Heinrich Stelzer. Er war Mitglied bei Eintracht Frankfurt, arbeitete dort als Turnlehrer und war aktiver Sportler in »seinem« Verein. Evangelisch getauft, soll er nach der Hochzeit zum Judentum übergetreten sein. In der NS-Zeit kämpfte er um seinen »Arier«-Status, um Lebensmittelkarten für sich und seine Kinder zu bekommen. Doch vergebens: Er wurde deportiert und starb im März 1944 in Buchenwald. »Die Nazis haben einfach alle umgebracht, die nicht ins Schema passten«, berichtet Steven den Schülern.
Mit Stolz hat er gesehen, dass sein Großvater im Museum von Eintracht Frankfurt geehrt wird. Und mit noch viel mehr »großen Gefühlen« die Stolpersteine berührt, die für seine Großeltern gelegt wurden. »Das war hoch emotional, ich habe mich ihnen plötzlich ganz nahe gefühlt«, sagt der gebürtige Amerikaner. Ein Stein wurde für Emil Stelzner eingelassen, der zweite für seine Ehefrau Else Setta Stelzer, geborene Wolf, die nach Auschwitz deportiert wurde und dort, kurz vor ihrem Mann, im Januar 1944 ums Leben kam.
Adoption Emil und Else hatten zwei Töchter: Ilse und Marianne. Dem Großvater väterlicherseits, Ernst, gelang es, beide Kinder nach New York zu bringen. Dort konnte sich der damals 78-Jährige aber nicht mehr richtig um die Mädchen kümmern. Die beiden Kinder wurden von der Familie Wells adoptiert, die später nach Kalifornien übersiedelte. »Erst vor zwei Jahren haben wir erfahren, dass unsere Großeltern gar nicht unsere leiblichen Großeltern sind«, erinnern sich Steven und Mark. »Das war wie ein Schock.«
Deutsch sprechen die beiden nicht. Und auch mit ihrem Judentum haben sie sich noch nicht sehr beschäftigt. »Wir sind jüdisch, praktizieren es aber nicht«, sagt Steven. Es gebe in Kalifornien zwar Synagogen, aber »wenn man da hingeht, laufen in fünf verschiedenen Synagogen fünf verschiedene Rituale ab«, moniert Steven. Höchstens der Rabbiner wisse, was er da tue. Aber welche Religion man habe, sei ihnen auch nicht so wichtig. »Wir sind einfach Botschafter von Gott.«
Dass sie sich überhaupt intensiver mit der Zeit des Nationalsozialismus befassen, ist ein Ergebnis des Besuchsprogramms. »In der Schule lernen wir nur, dass alle Juden umgebracht wurden. Mehr in die Tiefe geht man bei uns nicht«, berichtet Urenkel Trevor vom Geschichtsunterricht in den USA. Gedenkstätten oder ehemalige Konzentrationslager zu besuchen, käme den dreien allerdings auch nicht in den Sinn. »Wir waren bislang nicht einmal am 9/11 Memorial in New York, weil das zu hart ist«, sagt Steven.
Israel Für ein anderes Ziel ist indes die Reiselust geweckt: für Israel. »Wenn wir jetzt hinfliegen, haben wir ja schon Freunde dort«, sagen die beiden. Gemeint sind die ehemaligen Frankfurter beziehungsweise deren Nachkommen, die ebenfalls an dem Besuchsprogramm teilgenommen haben. Es entstünden oft neue Freundschaften, berichtet Angelika Rieber, die die Gäste mit ihrem Verein »Projekt Jüdisches Leben in Frankfurt« seit 1984 begleitet. »Ich selbst werde demnächst nach Terre Haute im US-Bundesstaat Indiana fahren. Ich bin zur Feier des 95. Geburtstags von Walter Sommers eingeladen.«
Auf der Webseite des Vereins (www.juedisches-leben-frankurt.de) ist Walter Sommers unter dem Namen Ron Sommers zu finden – im Internet werden die Ergebnisse aller Recherchen und Spurensuchen der ehemaligen Frankfurter dokumentiert. Die Mainmetropole lädt ein, organisiert Empfänge und bezahlt Flug sowie Unterkunft. Der Verein organisiert Gespräche mit Schülern, recherchiert die Genealogie der Gäste und begleitet sie während ihres Aufenthalts.
Angelika Rieber erlebte durch den Besuch von Mark und Steven Novins so etwas wie ein Déjà-vu: »Der Name Stelzer war mir sehr vertraut. Denn frühere Schüler hatten mir schon mit leuchtenden Augen von ihm erzählt. Er muss eine eindrucksvolle Persönlichkeit gewesen sein.« Seine Enkel und sein Urenkel haben ihn nun auch ein wenig kennengelernt – und ein Stück Familiengeschichte wiedergewonnen.