Streit um Wahlordnung

Gericht: Stimmrecht Berlins im Zentralrat aussetzen

Hat die Beschlüsse des Gerichts beim Zentralrat bislang ignoriert: Gideon Joffe Foto: imago images/Emmanuele Contini

Es war ein Beschluss, der angesichts der Entwicklungen der letzten Monate wenig überraschend kam: Das in Frankfurt am Main ansässige, unabhängige Gericht beim Zentralrat der Juden in Deutschland empfiehlt in dem laufenden Rechtsstreit zwischen dem Dachverband und der Jüdischen Gemeinde zu Berlin (beides Körperschaften des öffentlichen Rechts), Letzterer zunächst für die Dauer von einem Jahr die Stimmberechtigung in den Organen des Zentralrats abzuerkennen.

Das Gericht behielt sich darüber hinaus weitere Sanktionen gegen die Berliner Gemeinde vor. Schon am kommenden Dienstag will das neun Mitglieder umfassende Präsidium des Zentralrats über die Aussetzung des Stimmrechts beraten. Das bestätigte ein Zentralratssprecher auf Nachfrage.

Für einen solchen Beschluss wäre eine einfache Mehrheit ausreichend. Grund für die Empfehlung der 1. und 3. Kammer des Gerichts beim Zentralrat war die Entscheidung der Berliner Gemeindeführung, die Wahl zur Repräsentantenversammlung im September 2023 trotz einer einstweiligen Anordnung der Richter durchzuführen.

Das von Berliner Gemeindemitgliedern, darunter die ehemalige Vorsitzende Lala Süsskind, angerufene Gericht hatte die von der Gemeinde beschlossene Wahlordnung als mit demokratischen Grundsätzen wie der Chancengleichheit unvereinbar angesehen und gefordert, die Wahl bis zu einem Entscheid in der Hauptsache zu verschieben oder sie auf Grundlage der alten Wahlordnung abzuhalten. Beides lehnte die seit zwölf Jahren von Gideon Joffe geführte Gemeindeführung ab und ließ wie geplant Anfang September wählen.

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In der vom Gericht gerügten Wahlordnung waren bestimmte Personengruppen vom passiven Wahlrecht ausgeschlossen, unter anderem Personen über 70 (außer, sie hatten bereits ein Mandat in der Ratsversammlung inne) und Mitarbeiter bestimmter jüdischer Organisationen. Die Richter sahen nach summarischer Prüfung einen möglichen Verstoß gegen das Willkürverbot im Grundgesetz für hinreichend glaubhaft an, auch wenn sie bislang noch kein abschließendes Urteil gefällt haben.

Die Berliner Gemeindeführung erkannte die Zuständigkeit der Gerichtsbarkeit des Zentralrats mit Verweis auf einen eigenen Schiedsausschuss jedoch nicht an und ignorierte den im Juli 2023 ergangenen vorläufigen Beschluss. Bei der Wahl erzielten Joffe und seine Unterstützer in dem Gremium, das den Vorstand wählt und kontrolliert, eine große Mehrheit - auch, weil viele den Urnengang boykottiert hatten. Die Oppositionsliste Tikkun bezeichnete die Wahl mit Verweis auf das Gericht beim Zentralrat als illegal. Auch der Zentralrat selbst erkennt die Wahl nicht an.

Jetzt stellten zwei Kammern des Gerichts in separaten, aber identischen Beschlüssen fest: »Die Antragsgegnerin (die Jüdische Gemeinde zu Berlin; Anm. d. Red.) missachtet weiterhin die gegen sie ergangenen Anordnungen des Gerichts. §16 der Gerichtsordnung des Zentralrats der Juden in Deutschland sieht unter anderem vor, dass die Gerichte beim Zentralrat zur Durchsetzung ihrer Entscheidungen dem Präsidium des Zentralrats empfehlen können, einer Partei, die eine ihrer Entscheidungen nicht befolgt, die Stimmberechtigung in Organen des Zentralrats für die Dauer von bis zu zwei Jahren abzuerkennen.«

Betroffene Gremien

Die Aussetzung des Stimmrechts betrifft unter anderem die Ratsversammlung des Zentralrats, in die Berlin aktuell acht Delegierte entsendet und die mindestens einmal im Jahr tagt. Die Ratsversammlung wählt alle vier Jahre aus ihrer Mitte drei Mitglieder in das Präsidium des Zentralrats. Weitere sechs Präsidiumsmitglieder werden vom Direktorium des Zentralrats gewählt, das sich ebenfalls aus Vertretern der Landes- und sonstigen Mitgliedsverbände des Zentralrats zusammensetzt. Das Direktorium tagt mehrmals im Jahr, überwacht die Tätigkeit des Präsidiums und wählt den Geschäftsführer des Zentralrats. Die Jüdische Gemeinde zu Berlin entsendet zwei Vertreter ins Direktorium.

Zudem hat die Gemeinde mit Milena Rosenzweig-Winter seit Kurzem auch wieder ein Mitglied im Präsidium des Zentralrats. Die Geschäftsführerin der Berliner Gemeinde gehörte dem Leitungsgremium bereits von 2015 bis 2022 an und rückte für den verstorbenen Harry Schnabel aus Frankfurt nach. Sie setzte sich bei der Nachwahl gegen Oded Horowitz aus Düsseldorf durch. Gegenüber der »Katholischen Nachrichtenagentur« sagte Gideon Joffe: »Dass die Jüdische Gemeinde zu Berlin nun wieder im Zentralratspräsidium vertreten ist, zeigt deutlich, dass eine große Mehrheit der verantwortlichen Delegierten in den Führungsgremien des Zentralrats den eingeschlagenen Kurs und die wertvolle Arbeit der Berliner Gemeinde schätzt und unterstützt.«

Weiterer Zankapfel

Ob dem tatsächlich so ist, wird nun das Zentralratspräsidium entscheiden müssen. Dann nämlich, wenn es am Dienstag über die Empfehlung des Gerichts für eine einjährige Aussetzung des Stimmrechts befindet. Es wäre das erste Mal seit der deutschen Wiedervereinigung, dass eine Mitgliedsgemeinde im Zentralrat ihr Stimmrecht einbüßt. An Gremiensitzungen teilnehmen dürften die Berliner Vertreter künftig dennoch. Allerdings wäre in einem nächsten Schritt auch der zeitweise Entzug der Mitgliedsrechte möglich.

Die Berliner Wahlordnung ist nicht der einzige Zankapfel zwischen dem Leo-Baeck-Haus (dem Sitz des Zentralrats in Berlin) und der örtlichen jüdischen Gemeinde. Es gibt auch Streit über die Neuausrichtung der Rabbinerausbildung. Im Januar 2023 hatte die Jüdische Gemeinde zu Berlin die Gesellschaftsanteile am Abraham Geiger Kolleg und am Zacharias Frankel College übernommen, zur Überraschung vieler, auch der Führung des Zentralrats. Dieser plant nämlich eine Neuaufstellung der beiden Seminare in Potsdam unter dem Dach einer Stiftung. Was die Führung der Berliner Gemeinde mit den beiden Ausbildungsstätten vorhat, ist hingegen weiter unklar.

Laut Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) hatte die Gemeinde Ende 2022 knapp 8300 Mitglieder und war damit die zweitgrößte in der Bundesrepublik nach der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Mehr als die Hälfte der Gemeindemitglieder sind über 60 Jahre alt. An dem ausschließlich per Briefwahl durchgeführten Urnengang beteiligte sich Anfang September rund ein Fünftel der Wahlberechtigten.

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