Das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus erfolgt in München ab jetzt auf Augenhöhe. Vor einem Jahr wandte sich der Stadtrat nach langen Diskussionen gegen die Verlegung von Stolpersteinen und kündigte eine eigene, bessere Lösung an. Mit der Umsetzung wurde in der vergangenen Woche begonnen. Stelen, Informationstafeln und Fotos an und vor den Häusern der Mordopfer sollen eine individuelle Erinnerung und Würdigung ermöglichen.
Mit einer Gedenktafel für Franz und Tilly Landauer in der Königinstraße startete das Erinnerungsprojekt, das bald überall in der Stadt seine Spuren hinterlassen wird. Fast 5000 Münchner Juden starben durch den Nazi-Terror, das Ehepaar, das das Haus mit der Nummer 85 bewohnte, zählt dazu.
Festakt Auf der kleinen Bühne, die dort für den Festakt zur Enthüllung der beiden Informationstafeln für das Ehepaar aufgebaut wurde, kommt auch Uri Siegel zu Wort. 95 Jahre alt ist er, tut sich mit dem Laufen etwas schwer, aber dieses Ereignis will, ja kann er sich nicht entgehen lassen. Er ist der Neffe von Franz und Tilly Landauer – und der von Kurt Landauer, dem früheren Präsidenten des FC Bayern München. Alle waren bis zur Machtergreifung der Nazis ehrenwerte Mitglieder der Münchner Gesellschaft, danach geächtet.
Uri Siegel berichtet, dass für Franz und Tilly Landauer bereits Stolpersteine vorbereitet worden waren. »Ohne mein Wissen und sicher auch ohne meine Zustimmung«, erklärte er den rund 200 Anwesenden. Dagegen habe er bei der Stadt protestiert. Umso zufriedener sei er jetzt, dass München eine andere Form des Gedenkens gefunden habe.
IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch, die Stolpersteine für würdelos hält, begrüßt dieses Gedenkkonzept der Stadt München ausdrücklich. »Es ist richtig«, erklärte sie, »überall in der Stadt an die Opfer zu erinnern. Sie waren Bürger dieser Stadt. Die Häuser, in denen sie lebten, waren für sie ebenso wie für die heutigen Bewohner Orte des Alltags. Von dort wurden sie aufgrund einer menschenverachtenden Ideologie und oftmals auch unter Mithilfe ihrer Nachbarn herausgerissen.«
Gratwanderung Mit den Erinnerungszeichen in Form der Tafeln an den Hauswänden oder alternativ als knapp rund zwei Meter hohe Stele davor hat München nach Überzeugung der IKG-Präsidentin den absolut richtigen Weg eingeschlagen. Die Gratwanderung zwischen der alltäglichen Umgebung und der nötigen Würde des Gedenkens gelinge sehr gut, erklärte Charlotte Knobloch.
Stadtrat Marian Offman, zugleich Mitglied des IKG-Vorstands, sprach von einer »versöhnlichen Lösung«, dass nun der Menschen auf Augenhöhe gedacht werde und nicht auf dem Boden. »Wir, die Landeshauptstadt, geben den Ermordeten auf den Straßen unserer Stadt ein Gesicht«, erklärte er als offizieller Vertreter der Stadt.
Der angesprochene versöhnende Aspekt des Projekts lässt sich bereits jetzt konkret festmachen. Nach der langen, oft erbittert geführten Diskussion zwischen Stolperstein-Befürwortern und ihren Gegnern ist ein Seitenwechsel ausgesprochen bemerkenswert. An der Mauerkirchner Straße in Bogenhausen wurde eine Stele für Siegfried Jordan errichtet. Dessen Sohn, der der Errichtung des Erinnerungszeichens zugestimmt hat, hatte einst sogar geklagt, um Stolpersteine durchzusetzen.
Motive Kulturreferent Hans-Georg Küppers freut sich vor allem über die »eigenständige Lösung«, die die Stadt gefunden habe. Es gebe bereits mehrere Interessenten, die ihre von den Nazis ermordeten Angehörigen so in Ehren halten möchten, berichtete er am Rande der Veranstaltung in der Königinstraße.
Insgesamt wurden rund 10.000 Münchner Kinder, Frauen und Männer aus politischen und rassistischen Motiven heraus ermordet, wegen ihrer sexuellen Orientierung, ihres Glaubens, ihrer unangepassten Lebensweise und aufgrund psychischer Erkrankungen oder Behinderungen.
Oberbürgermeister Dieter Reiter hatte das Konzept schon vorher mit lobenden Worten bedacht. »Wir dokumentieren den breiten Schulterschluss nach langer Diskussion – und dass wir das viel beschworene ›Nie wieder!‹ als Verpflichtung sehen«, erklärte er.
biografien In der ersten Phase wurden an sechs verschiedenen Standorten, die quer über die Stadt verteilt sind, Erinnerungstafeln oder Stelen angebracht. Sie erinnern an die Opfer, die dort gelebt haben:
Dr. Friedrich Crusius, Mandlstraße 21, war psychisch erkrankt und wurde 1938 in die Heilanstalt Eglfing-Haar zwangseingewiesen und als »gemeingefährlich« eingestuft. Im Oktober 1940 wurde er in die Heilanstalt Niedernhart verschleppt und ein halbes Jahr später ermordet.
Ludwig Holleis, Daiserstraße 45, wurde 1944 von der Gestapo festgenommen. Seine Schwester gehörte einer Widerstandsgruppe an, er selbst war völlig unbeteiligt. Die Schergen aus der Gestapo-Zentrale in der Brienner Straße misshandelten ihn derart, dass er wenige Wochen nach seiner Verhaftung starb.
Pogrom Paula und Siegfried Jordan, Mauerkircherstraße 13, betrieben eine Kunstgalerie. Bereits 1937 wurden sie von den Nazis gezwungen, ihr Geschäft aufzugeben. Siegfried Jordan kam nach der Pogromnacht ins KZ-Dachau. Er und seine Frau wurden 1941 nach Kaunas deportiert und dort von einer SS-Einsatzgruppe erschossen.
Walter Klingenbeck, Amalienstraße 44, war ein gläubiger Katholik. Er scharte Jugendliche um sich und verfasste Flugblätter, in denen zum Sturz der Regierung aufgerufen wurde. Er wurde 1942 verhaftet, vom Volksgerichtshof zum Tod verurteilt und im Gefängnis München-Stadelheim ermordet.
Therese Kühner, Auenstraße 15, war Zeugin Jehovas. Sie verfasste pazifistische Schriften und musste sich deswegen vor dem Volksgerichtshof verantworten. Das Todesurteil, das gegen sie verhängt wurde, wurde 1944 im Gefängnis Berlin-Plötzensee vollstreckt.
Franz und Tilly Landauer, Königinstraße 85, konnten 1938 in die Niederlande fliehen. Vier Jahre später wurden sie dann doch von den Nazis verhaftet. Franz Landauer kam Ende 1942 im Lager Westerbork ums Leben, Tilly Landauer wurde ins KZ Theresienstadt gebracht, dann nach Auschwitz und unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet.