Ist der letzte Strich korrekt? Verwischt die schwarze Tinte nicht auf dem Pergament? Oder gibt es gar einen Spritzer aus der spitzen Feder? Es wäre verheerend: Schon ein winziger Tropfen zerstört das ganze Werk. Wem jetzt ein Fehler unterläuft, hat die Arbeit eines ganzen Jahres verdorben. Jeder der Schreiber eines der letzten Buchstaben in der neuen Torarolle für die Hamburger Synagoge und das Rabbinerseminar im Chabad-Zentrum an der Rothenbaumchaussee spürte am letzten Chanukkatag die ungeheure Anspannung, keinen, auch nicht den kleinsten Patzer beim Schreiben machen zu dürfen. Sie alle waren sich ihrer hohen Verantwortung durchaus bewusst.
Aufmerksam beobachtete Sofer Asher Ben Chaim alle Schreiber, nachdem er ihnen die Feder in die Hand gegeben und genau erklärt hatte, wie sie welchen Strich in die bereits vorhandenen Konturen setzen sollten. Auch Yosef Yitzchak Havlin, Rabbiner aus Ramat Shlomo bei Jerusalem und Vater des Hamburger Rabbiners Shmuel Havlin, beobachtete die Schreiber genau, während um den festlich gerichteten Tisch mit dem zum Ende ausgerollten Pergament nach einem langen Gebet Hebräisch, Deutsch, Englisch und Russisch gesprochen wird.
Verantwortung Doch mit der immensen Verantwortung, keinen falschen Strich auf die kostbare neue Rolle zu setzen, war den Schreibern auch die Freude über die Ehre, zu denen zu gehören, die die letzten Buchstaben schreiben durften, deutlich anzusehen. Das Strahlen der Augen wechselte sich ab mit dem Staunen über die Kostbarkeit der Torarolle und über die Arbeit des Sofers, der mit der Hamburger Tora bereits sein 25. Werk vollendete.
Zu den Schreibern der letzten Buchstaben gehört auch Garegin David Tsaturov, der Stifter der neuen Tora. Der russische Schiffbau-Unternehmer und Chef einer Werft in Hamburg-Neuenfelde hat den Vorsitz im Kuratorium der 2014 gegründeten Stiftung »Jüdische Zukunft« inne, die unter anderem das Rabbinerseminar »Or Jonathan« am Chabad-Zentrum an Hamburgs Rothenbaumchaussee fördert.
Lebensglück »Es ist eine tiefe Freude in mir, dass ich nun vor der Torarolle sitze und letzte Buchstaben schreiben darf«, sagte David Tsaturov. Er habe die Torarolle als Dank dafür gestiftet, dass es ihm so gut geht.
Am Rabbinerseminar unterrichtet neben Hamburgs Landesrabbiner Shlomo Bistritzky auch Shlomo Havlin, der ebenfalls einen der letzten Buchstaben vollendete. »Eine Torarolle zu schreiben, ist eine Mizwa, die für jeden gilt. Da das fast unmöglich und unbezahlbar ist, suchen wir immer eine Gelegenheit, uns daran zu beteiligen«, erklärte Havlin. »Es ist für uns alle eine große Freude, aber noch unfassbarer ist die Ehre, einen der letzten Buchstaben schreiben zu dürfen.« Damit seine Söhne das miterleben konnten, habe er sie extra frühzeitig aus der Schule geholt, erzählte der Rabbiner.
»Eine Torarolle zu schreiben,
ist eine Mizwa, die für jeden gilt.«
Rabbiner Shlomo Havlin
Rabbiner Bistritzky beteiligte seinen Sohn Levi. »Wenn eine neue Torarolle eingeweiht wird, ist das eine große Freude, ein Geschenk für die ganze Stadt, für Hamburg«, sagte der Landesrabbiner. Er dankte vor allem auch dem Stifter der Rolle. Die Idee des Tages sei, »dass David Tsaturov die Torarolle auch gestiftet hat, damit sie nicht nur in der Hamburger Synagoge, sondern auch im Rabbinerseminar jede Woche genutzt wird, um aus der Tora zu lernen«.
Bernhard Effertz, erster Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Hamburg, schrieb den letzten Buchstaben aufs kostbare Pergament. Er dankte dem Spender David Tsaturov. »Es ist ein großer Moment für unsere Gemeinde, es ist die achte Torarolle, die wir erhalten, und wir sind sehr dankbar.« Zuvor hatte auch Philipp Stricharz, zweiter Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Hamburg, mit der feinen Feder einen letzten Buchstaben gesetzt. »Ich freue mich sehr, es ist ein erhabener Moment«, bekannte Stricharz.
Gäste Schon während die Männer die letzten Buchstaben schrieben und Sofer Asher Ben Chorin die Schriftrolle mit Sehnen an den Torastäben vernähte, tanzten und sangen die Gäste und Besucher im Rabbinerseminar an der Rothenbaumchaussee voller Freude. Schließlich ging es mit der neuen Sefer Tora und den Gästen aus Jerusalem, Moskau und New York im schwarzen Kleinbus zur Synagoge an der Hohen Weide.
Dort warteten bereits rund 300 Gemeindemitglieder und geladene Gäste auf die jetzt vollständig in ihren Samtmantel gehüllte und mit der Silberkrone geschmückte Torarolle, um ihr auf dem 45-minütigen Umzug um die Synagoge, durch zugige Straßen und unter einer Überführung mit ratternder U-Bahn hindurch zu folgen – immer präsent und diskret gesichert von der Hamburger Polizei.
hava Nagila In der Synagoge wurde die Tora, jetzt vereint mit den anderen Torarollen der Gemeinde, unter den Gesängen der Hakafot siebenmal um die Bima getragen. Begleitet wurde die Einbringung von mitreißenden Rhythmen eines Trios aus Amsterdam, das zahlreiche jiddische, jüdische und israelische Lieder bis hin zu »Hava Nagila« spielte.
Immer wieder rief Landesrabbiner Shlomo Bistritzky Gemeindemitglieder auf, sich einzureihen, darunter auch Vertreter der Kohanim oder auch Chaim Badrian, der als Erster in der vor 63 Jahren eröffneten Hamburger Synagoge mit seiner Ehefrau Hanna unter der Chuppa stand. Mit einem fröhlichen Festessen und anschließendem Tanz klang ein denkwürdiger Tag für die Jüdische Gemeinde Hamburg aus.