Ein gutes Dutzend junger Männer und Frauen hat sich in die kleine Küche in den Räumen der jüdischen Gemeinde in Leipzig gequetscht. Sie tragen weiße Plastikschürzen und sind mit Feuereifer bei der Arbeit: Hier wird Gemüse geschnitten, da ein Hefeteig angesetzt, dort werden Kartoffeln gerieben, kurz: Es wird ein mehrgängiges Chanukka-Menü gekocht, inklusive zweierlei Sorten Latkes und Sufganiot.
Während Töpfe klappern, heißes Fett zischt und alle durcheinanderreden, steht Bronja Vernikova inmitten des Getümmels und ist ganz in ihrem Element. Die alte Dame ist die Hauptperson des heutigen Tages, sie ist hier, um ihre traditionellen jüdischen Kochkünste an die Enkelgeneration weiterzugeben und ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Denn Bronja Vernikova ist nicht nur eine ausgezeichnete Köchin, sondern auch eine Holocaust-Überlebende.
Heimatgefühle »GefilteFish-Stories« nennt sich die Veranstaltungsreihe, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Generationen an Herd und Tisch zusammenzubringen, um Rezepte und Geschichten zu teilen. »Kochen ist ein Kulturgut, ein Stückchen Heimat, das immer mitkommt«, sagt Emilia Fliegler, die das Projekt ins Leben gerufen hat. Die 27-Jährige ist Ende der 90er-Jahre gemeinsam mit ihrer Familie aus der Ukraine nach Deutschland eingewandert und hat das Kochen von ihrer Oma Bronja gelernt.
Und sie hat festgestellt, dass Schoa-Überlebende wie ihre Großmutter, die dreieinhalb Jahre im Ghetto von Berschad durchlitt, durch ihre Hungererfahrungen ein besonderes Verhältnis zum Kochen und Essen haben. »Ihnen ist es immer sehr wichtig, dass alle satt werden und immer genug Essen im Haus ist. Es hat lange gedauert, bis ich verstanden habe, warum die uns immer so vollstopfen.«
Männer-Kochkurs Die Idee zu ihrem Projekt kam Emilia beim Fernsehen, als sie eine Sendung über Männer-Kochklubs in Spanien sah. »Da habe ich sofort daran gedacht, etwas Ähnliches in einem jüdischen Kontext zu veranstalten«, sagt sie. Wichtig war ihr dabei der generationenübergreifende Aspekt, die gegenseitige Wertschätzung und die Idee, voneinander zu lernen. Sie schrieb ein Konzept, fand Mitstreiter und eine Finanzierung, und so konnte am 22. September an Sukkot in Erfurt die Premiere der GefilteFish-Stories stattfinden. Dort wurde unter Anleitung von Emilias Oma Bronja tatsächlich auch das namensgebende Gericht zubereitet.
Die jungen Leute, die Anfang Dezember in Leipzig gemeinsam kochen, sind aus Jena, Erfurt und München angereist. Nur wenige haben in ihren Familien die traditionelle jüdische Küche kennengelernt. Viele erzählen, dass ihre Eltern unter der atheistischen Staatsdoktrin der Sowjetunion aufgewachsen sind und sich vom Judentum entfremdet haben. Erst die Töchter und Söhne wenden sich nun wieder bewusster der Religion und den Traditionen zu – zum Teil als einzige in ihrer Familie. Für sie sind die traditionellen Rezepte und Geschichten »ein Schatz, den es zu heben und für zukünftige Generationen zu bewahren gilt«, wie es eine der Teilnehmerinnen formuliert.
Doch vor allem soll die Veranstaltung Spaß machen. Dafür sorgt schon Bronja Vernikova, deren wichtigste Küchenweisheit lautet: »Man muss mit guter Laune an das Gericht rangehen, dann gelingt es auch.« Und so wird viel gelacht, als die alte Dame mit ein paar jungen Frauen aus dem Hefeteig einen riesigen Haufen Krapfen formt und sie mit Marmelade füllt. Kochen gehörte einfach dazu, wenn man Familie hat, sagt sie, und die Liebe scheint in diesem Falle tatsächlich durch den Magen zu gehen – seit bald 55 Jahren sei sie mit ihrem Mann verheiratet, erzählt sie stolz.
Gäste Derweil wird nebenan bereits eine lange Tafel mit Papptellern und Plastikbesteck gedeckt. Alles ist etwas improvisiert, doch das stört hier niemanden, schließlich geht es nicht um Formalitäten. Zum Essen trudeln Besucher ein, mit Jakov Mosevich wurde noch ein weiterer Zeitzeuge eingeladen, und auch der Hausherr, Leipzigs Rabbiner Zsolt Balla, gibt sich die Ehre.
Endlich können alle die Früchte eines langen Küchentages kosten, die Stimmung ist fröhlich und wird erst nachdenklicher, als die beiden Zeitzeugen anfangen, ihre Lebens- und Überlebensgeschichten zu erzählen, von der Verfolgung durch die Nazis und Repressionen in der Sowjetunion. Prompt entspinnt sich zwischen den älteren Herrschaften eine lebhafte Debatte darüber, wie weit es möglich war, in der UdSSR eine traditionell jüdische Lebensweise fortzuführen.
Am Ende finden die beiden zwar keinen Konsens, gehen aber versöhnlich auseinander. Als die Teller abgeräumt werden und sich die Veranstaltung ihrem Ende zuneigt, stellt eine der Leipzigerinnen fest: »Das hat wirklich genau so wie bei meiner Oma geschmeckt« – ein Stückchen Heimat eben.
Inzwischen hat sich das Projekt herumgesprochen, für das kommende Jahr sind 15 weitere Veranstaltungen von Hamburg bis Wien geplant. Die Details werden auf der Facebookseite des Projekts veröffentlicht (www.facebook.com/GefileFishStories). Und dann gibt es auch wieder den namensgebenden Gefilte Fisch.