Gelsenkirchen

»Es war ein Urknall«

Ein Ständchen zum Siebenjährigen: der Chor der Gemeinde Gelsenkirchen Foto: Alexandra Roth

Es ist kurz vor zwölf Uhr an einem Sonntag, doch am Rande der Gelsenkirchener Innenstadt ist einiges los. »Wir mussten früher öffnen, weil die ersten Leute schon vor der Tür standen«, erzählt Judith Neuwald-Tasbach, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde. Der Tag der offenen Tür lockt die Menschen an. Vor sieben Jahren wurden die Synagoge und das Gemeindezentrum an der Georgstraße eröffnet, und längst gehört es zum Alltag der Gelsenkirchener – der Gemeindemitglieder und ebenso der nichtjüdischen Besucher.

Schon kurz vor der Einweihung 2007 hatte Neuwald-Tasbach das Gefühl, dass die Bewohner der Ruhrgebietsstadt Interesse an dem hellen Neubau mit den großen Fenstern haben und gerne hineinschauen würden. »Ich habe damals im Vorstand angeregt, für den Eröffnungstag 800 Stückchen Kuchen zu kaufen. Aber man war unentschlossen, weil man nicht wusste, wo man die Reste hätte einfrieren können.« Schließlich bestellte man doch die 800 Stückchen, und die waren nach einer halben Stunde weg. »Nach Schätzungen der Polizei waren an diesem Tag 12.000 Menschen bei uns«, sagt die Gemeindevorsitzende. In Zweierreihen hätten sie draußen gestanden, die Schlange reichte um einige Häuserecken.

Vertrautheit Heute, sieben Jahre später, ist der Andrang nicht ganz so groß, der Besuch der Gemeinde scheint in Gelsenkirchen nichts Außergewöhnliches mehr zu sein. Offene Türen hat man hier praktisch jeden Tag. »Allein bei unseren Veranstaltungen hatten wir hier schon mehr als 40.000 Besucher«, erklärt Neuwald-Tasbach. Konzerte, Lesungen und Ausstellungen finden regelmäßig statt.

Ungebrochen sei auch das Interesse an den Führungen durch die Gemeinderäume. »Wir haben hier einen Ort, an dem man jüdisches Leben sehen kann«, sagt die 54-Jährige. Oft kommen auch nichtjüdische Besucher zu Schabbat-Gottesdiensten. »Manchmal sind es mehr Besucher als Gemeindemitglieder. Ich würde mich freuen, wenn alle 200 Plätze unserer Synagoge von Mitgliedern besetzt wären, aber das ist utopisch.«

Bis zur Eröffnung der neuen Synagoge war die Gemeinde an der Von-der-Recke-Straße beheimatet: »In der Verwaltung haben wir auf Schreibmaschinen getippt, es gab noch nicht mal einen Computer.« Neuwald-Tasbachs Erinnerungen muten wie aus einem anderen Jahrhundert an. »Doch, einen altersschwachen Computer gab es, aber an Internet war da nicht zu denken«, sagt die Gemeindevorsitzende und lächelt.

Am neuen Standort sei dann das Gemeindeleben von null auf hundert emporgeschnellt. »Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Früher hatten wir nur einen Raum, der hin und wieder benutzt wurde. Heute sind die vielen Räume ständig mit Aktivitäten belegt.«

Nährboden So sieht es auch Elmar Alshut, Leiter des Fördervereins, der die Gemeinde unterstützt. »Zur Entwicklung der Gemeinde nach dem Umzug muss man sagen: Es hat sich nichts entwickelt – es war ein Urknall. Und die Gelsenkirchener Bevölkerung hat das mitgemacht. Sie war sofort da, man musste sie nicht daran gewöhnen.«

Zwei der wenigen Besucher, die am Tag der offenen Tür zum ersten Mal in das Gemeindezentrum kommen, sind Angelika und Klaus Stegmann, die deshalb beinahe entschuldigend dreinblicken. Dass hier ein etablierter Veranstaltungsort entstanden ist, wissen die beiden Gelsenkirchener aber längst. »Ich finde es sehr gut, dass hier so viel geboten wird und die Menschen kommen, auch wenn wir es jetzt erst geschafft haben«, sagt Angelika Stegmann. Für Klaus Stegmann sollten die Begegnungen, die hier zur Selbstverständlichkeit werden, aber nicht nur im Gemeindezentrum stattfinden. »Diese Verknüpfungen müssen auf einen konstant guten Nährboden fallen«, sagt er. »Aber damit darauf etwas wächst, muss man ihn auch gießen.«

Besucher Während die ersten Besucher schon durch die Synagoge geführt werden, gerät Neuwald-Tasbach ein wenig in Hektik: Pressevertreter haben Fragen, eine kleine Kasse muss her, die Filmvorführung in einem der oberen Räume läuft nicht an. »Und wir müssen die Türen zum Hof aufmachen«, sagt sie und zeigt in Richtung der Glastüren. »Man kann zwar raus, aber dann nicht wieder reinkommen«, erklärt sie. Die ersten Gäste haben sich schon nach draußen verirrt, bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt.

Aber auch dieses Problem wird schnell gelöst. Und am Tag der offenen Tür läuft das Gemeindeleben in Gelsenkirchen weiter. Die Kinder, die sich sonntags sonst auf ihren großen Auftritt zu Purim vorbereiten, stürmen den Saal. Die Vorsitzende ermahnt sie, nicht zu schnell zu rennen und deshalb hinzufallen. Sie bleibt ungehört, lächelt ihnen aber hinterher. »Unsere Kinder bringen gerne auch nichtjüdische Freunde mit.« Das gehe auch in einem begrenzten Umfang, wenn es der Platz zulässt. Bei Bar- und Batmizwa-Feiern laden auch ihre Eltern nichtjüdische Freunde und Bekannte ein. Sie sind stolz und wollen ihnen die Gemeinde gerne zeigen.

»Unsere Mitglieder fühlen sich hier wie zu Hause.« So etwas habe man nicht voraussehen und schon gar nicht planen können. Welche Schränke und Tische man kaufe, das könne man planen. »Aber nicht, wie das Haus angenommen wird. Eine Synagoge soll ein Haus des Gebets, des Lernens und der Versammlung sein«, sagt Neuwald-Tasbach. »Dem kommen wir in erhöhtem Maße nach.«

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