Es war ein emotional berührender Abend, aber ohne jegliche Aufgeregtheit: Leon Weintraub verlieh der Gedenkstunde am Erew Jom Haschoa in der Ohel-Jakob-Synagoge eine ganz besondere Note. Der Sohn einer jüdischen Familie aus dem polnischen Lodz gehört zu jener immer kleiner werdenden Gemeinschaft von Zeitzeugen, die das furchtbarste Verbrechen der Geschichte überlebt haben. Vor über 45 Jahren ist Schweden seine neue Heimat geworden, aber den Schoa-Überlebenden zieht es immer wieder auch nach Deutschland zurück.
Hass ist aus den Worten und der Stimme von Leon Weintraub, der das Grauen mehrerer Konzentrationslager am eigenen Leib erfahren musste, darunter Auschwitz-Birkenau, nicht herauszuhören. Es sind klare, einfache Sätze, die ihn authentisch erscheinen lassen und die IKG-Gemeindemitglieder in der Synagoge umso mehr bewegen. »Ein Stück länger leben« hat er seine Betrachtungen überschrieben, die er mit den Besuchern an diesem so wichtigen Gedenktag teilte.
Hunger Sein Blick geht weit zurück, ins Jahr 1939, als die deutschen Soldaten seine Heimatstadt erreichten. »Das Geräusch ihrer Stiefel beim Einmarsch«, berichtete er 70 Jahre nach Ende der NS-Zeit und 72 Jahre nach dem Aufstand im Warschauer Ghetto, »höre ich bis heute.« Auch der Hunger, der im Ghetto herrschte, »das Gefühl, nie satt zu sein«, ist in seinem Gedächtnis niemals vergangen und prägt ihn bis heute.
Noch tiefer aber sitzen die Entwürdigung und die Entmenschlichung, die er als Kind erleben musste. »Das Land der Dichter und Denker in der Mitte Europas«, sagte Leon Weintraub in der Gedenkstunde, »nahm uns Juden alle Rechte, weil wir Juden sind. Eigentlich unvorstellbar, aber es war so.«
Die Allgegenwärtigkeit des Todes, mit der Leon Weintraub bereits im Ghetto konfrontiert wurde, nahm im Sommer 1944 unerträgliche Züge an. Die ganze Familie wurde nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Seine geliebte Mutter sah er danach nie wieder. Und auch er selbst überlebte nur, weil er einer Intuition folgte und sich in einem unbeobachteten Augenblick unter Lebensgefahr einem Gefangenentransport anschloss und auf diesem Wege in das KZ-Außenlager Groß-Rosen gelangte, wo er unter anderem als Elektriker eingesetzt wurde – und so dem Tod in der Gaskammer entkam.
befreiung In den letzten Monaten des Krieges durchlebte Weintraub eine Odyssee: Im Februar kam er nach Flossenbürg, einen Monat später ins KZ Natzweiler-Struthof/Offenburg. Danach wurde er Richtung Bodensee verlegt. Mit anderen Leidensgenossen konnte er fliehen, als der Zug von einem Jagdbomber beschossen wurde. Am 23. April 1945 erreichte die kleine Gruppe die Stadt Donaueschingen, die unmittelbar vorher von den Franzosen befreit worden war. Leon Weintraubs Leben hing damals an einem seidenen Faden. Er hatte Typhus und wog gerade noch 35 Kilogramm.
Heute, genau 70 Jahre später, ist Leon Weintraub ein fein gekleideter Herr mit Jackett und Fliege und einer geordneten, nachvollziehbaren Gedankenwelt. Ohne jegliches Pathos steht er in der Synagoge und sagt einen Satz, der sich auf das Ende des Nazi-Regimes bezieht und dessen umfassende Bedeutung wohl nur er selbst genau einschätzen kann. »Es war ein langsamer und mühevoller Weg zurück ins Leben«, verrät er mit leiser und zurückhaltender Stimme.
Seine Sachlichkeit und Präzision bei der Darstellung von Erlebtem und seiner Vision von einer Welt ohne Ausgrenzung macht Weintraub zu einem gefragten Zeitzeugen. Oft ist er auch in der Bundesrepublik unterwegs, um Vorträge zu halten und das »Nie wieder!« ins Bewusstsein vieler junger Menschen zu rücken. Dafür hat er vor Jahren das Bundesverdienstkreuz am Bande erhalten.
Schweden »Leben«, machte Leon Weintraub bei seinen Betrachtungen in der Ohel-Jakob-Synagoge deutlich, »wollte ich lieber in einem neutralen Land.« Diese Erkenntnis setzte sich aber erst Ende der 60er-Jahre durch. Wieder war es die immer deutlicher zu Tage tretende Judenfeindlichkeit in Polen, die ihn bewog, seinen Lebensmittelpunkt erneut zu ändern. Und doch betont er auch heute noch, dass »Vertrauen die allerwichtigste Voraussetzung zur Begegnung mit anderen Menschen« ist.
Weintraub begann nur ein Jahr nach Ende des Krieges in Göttingen mit seinem Medizinstudium, lernte dort auch seine Frau Katja kennen. Ab 1950 arbeitete er als Frauenarzt in Polen, promovierte 1966 – und verlor drei Jahre später als Folge des immer stärker werdenden Judenhasses seine Anstellung als Arzt. Noch im gleichen Jahr emigrierte die Familie nach Schweden, wo er sich in Stockholm schnell einen Namen machte und bis weit über das Rentenalter hinaus medizinisch tätig war.
In Gesprächen räumt er ein, dass für ihn der Beruf des Frauenarztes und Geburtshelfers eine Berufung gewesen sei, die im engen Bezug zu seinen Schreckenserlebnissen als Jugendlicher steht: »Meine Jugend war vom Anblick des Todes geprägt. In meinem Beruf konnte ich mich für das Leben einsetzen.«