Im Alter von 17 Jahren war Hanni Lévy bereits Vollwaise. An jenem Tag aber, als sie ihre Großmutter im Sammellager zum letzten Mal vor deren Deportation sah, war der jüdische Teenager froh, dass ihre Eltern das nicht mehr erleben mussten, weil sie zu diesem Zeitpunkt bereits gestorben waren. Nun wohnte sie ganz allein in der großen elterlichen Wohnung, von wo aus sie Tag für Tag zu einer Spinnstofffabrik fuhr, in der sie zwangsverpflichtet war. In einem großen Saal, an dessen Eingang ein Schild mit der Aufschrift »Judenabteilung – Eintritt verboten!« hing, musste sie im Schichtbetrieb Zwirnfäden aufspulen.
Dann aber wurde auch an ihre Wohnungstüre gehämmert. Sie verhielt sich ruhig. Erst Stunden später verließ sie pochenden Herzens das Haus. Sie beschloss, in der Millionenstadt unterzutauchen.
Film An dieser Stelle begann Hanni Lévys Geschichte für den Drehbuchautor und Filmregisseur Claus Räfle interessant zu werden. In seinem Doku-Drama Die Unsichtbaren – Wir wollen leben wurde sie von der Schauspielerin Alice Dwyer dargestellt. Einige Zehntausend Menschen sahen den Film seit vergangenem Herbst nicht nur in Deutschland, sondern auch in Israel und auf Filmfestivals weltweit.
In diesem Sommer nun war Hanni Lévy selbst aus ihrer Wahlheimat Paris in ihre Geburtsstadt Berlin gekommen, um für die Veranstaltungsreihe »Ohne Erinnerung keine Zukunft« im Jüdischen Museum Rede und Antwort zu stehen. Der Publikumsandrang war derart hoch, dass die Veranstaltung aus dem Saal der Blumenthal-Akademie in einen größeren im gegenüberliegenden Haupthaus verlegt werden musste.
Ganz in der Nähe des Veranstaltungsortes sei sie zur Schule gegangen, erzählt Hanni Lévy. Es war die Zeit, als ihr Vater noch als Fotograf arbeitete und zu den Hohen Feiertagen mit Zylinder in die Synagoge ging. Nach der Pogromnacht 1938 wurde ihr Vater arbeitslos. In seiner Verzweiflung wandte er sich an seinen ehemaligen Kommandeur der Fliegerstaffel »Manfred von Richthofen« aus dem Ersten Weltkrieg: Hermann Göring.
Ehrenkreuz Immerhin war ihm doch noch vor wenigen Jahren für seine Verdienste das Ehrenkreuz verliehen worden, das die kleine Hanni stolz in der Schule herumgezeigt hatte. Tatsächlich wurde der Vater zum Arbeitsamt bestellt, wo man über die Anweisung »von ganz oben« überrascht war. Es wurde ihm eine Arbeit in einem Fotolabor vermittelt. Ein knappes Jahr hielt dieses »Privileg«, dann wurde der schwer an Asthma erkrankte Mann zur Kartoffelernte eingezogen. Vier Monate später war er tot.
Hanni besuchte mittlerweile die Schule der jüdischen Reformgemeinde und erhielt dort einen exzellenten Unterricht. Wurden sie doch von habilitierten Hochschullehrern unterrichtet, die als Juden aus den Universitäten entlassen worden waren. Noch immer, so Hanni Lévy heute, habe sie damals den Ernst der Lage nicht begriffen.
Selbst als sie am 1. September 1941 mit ihrer Mutter den Stern an die Kleidung nähte, dachte sie nicht darüber nach. Das änderte sich schlagartig, als martialisch an ihrer Wohnungstür geklopft und »Aufmachen!« befohlen wurde.
Zunächst wurde Hanni von nichtjüdischen Freunden der Mutter aufgenommen. Von einem Friseur ließ sie sich die Haare blond färben und nahm den unverdächtigen Namen Hannelore Winkler an.
Identitätskarte Die 94-Jährige erzählt, wie sie sich bei einem Postbeamten eine Identitätskarte auf diesen Namen erschlich. Aber auch, wie sie auf dem Kurfürstendamm dem jüdischen »Greifer« Rolf Issacson begegnete, der mit der Gestapo zusammenarbeitete und den sie von früher kannte. Wegen ihrer blonden Haare habe er sie nicht erkannt.
Im Film wird die Szene gezeigt, wie sie sich in einem Berliner Kino der Kassenfrau offenbart. Deren Familie nimmt sie schließlich auf und bringt sie durch den Bombenkrieg. Es sei eine furchtbare Zeit gewesen, in der es aber dennoch auch »Menschen mit Herz und Mut« gegeben habe. »Es waren nicht alle Mörder!«, ruft Hanni Lévy in den Saal, und der Applaus des Publikums gilt jenen unbekannten Berlinern, die 1700 Juden in der Reichshauptstadt das Überleben ermöglichten.