Erinnerung auf Augenhöhe: Dieser Anspruch ist für Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern unumstößlich, für die ganze jüdische Gemeinde – und nach vielen Jahren der Verdrängung inzwischen auch für die Stadt.
Ende Juli hatte Oberbürgermeister Dieter Reiter die erste Stele enthüllt. Sie ist einem Ehepaar gewidmet, das zu jenen rund 5000 Münchner Juden gehörte, die von den Nazis ermordet wurden. In der vergangenen Woche nun kamen weitere Stelen hinzu, und am Ende könnten die Erinnerungszeichen überall vor jenen Häusern stehen, in denen die Opfer von staatlich gelenktem Hass zuletzt gelebt hatten.
POGROMNACHT Der jüdische Kaufmann Bernhard Haas, der Frau und Tochter hatte, wurde am 9. November 1938, in der Pogromnacht, nach Dachau verschleppt. Nur drei Wochen später, zwei Tage nach seinem 67. Geburtstag, war er tot.
Auf den Tag genau 80 Jahre später, am Mittwoch der vergangenen Woche, versammelte sich vor seinem Haus in der Varnhagenstraße 7 (früher Sandstraße) eine kleine Gruppe von Menschen, darunter Vertreter der Stadt und des Bezirks Pasing-Obermenzing sowie neben der IKG-Präsidentin auch Gemeinderabbiner Shmuel Aharon Brodman. Nachdenklich blickten die Anwesenden auf die Stele mit dem eingravierten Foto und den persönlichen Daten von Bernhard Haas.
Charlotte Knobloch, die als Kind den nationalsozialistischen Hass und die Tatenlosigkeit der Münchner Bürger erleben musste, kam nicht umhin, in diesem Moment Parallelen zur Gegenwart zu ziehen.
Charlotte Knobloch, die als Kind den nationalsozialistischen Hass und die Tatenlosigkeit der Münchner Bürger erleben musste, kam nicht umhin, in diesem Moment Parallelen zur Gegenwart zu ziehen. »Die Entwicklungen der letzten Jahre, das Erstarken des Antisemitismus in seinen vielen verschiedenen Erscheinungsformen, bereitet uns große Sorge. So sehr, wie ich es mir nicht hätte träumen lassen«, sagte sie neben der Stele für Bernhard Haas und nahm auch den Begriff »erschreckendes Déjà-vu« in den Mund.
ZEITZEUGEN Sie erinnerte auch an die bald erreichte Schwelle zur »Zeit ohne Zeitzeugen«, die es notwendig mache, nachhaltige Formen von Erinnerung zu schaffen. »Zeitzeugen«, erklärte sie, »geben dem Geschehen der Vergangenheit ein menschliches Gesicht.« Ohne sie sei die unabdingbare Notwendigkeit, den Nachgeborenen ihre Verantwortung für die menschliche Gesellschaft nahezubringen, schwieriger. »Umso wichtiger ist es«, so die IKG-Präsidentin, »dass wir uns gemeinsam um ein nachhaltiges Erinnern und würdiges Gedenken bemühen, denn Erinnerung und Gedenken schärfen den Blick für unsere Gegenwart.«
Die Stelen stellten nach ihrer Überzeugung in diesem Zusammenhang einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag dar: »Sie erinnern im Alltag, mitten unter uns, an Menschen, die wie Bernhard Haas einen Namen trugen und einst selbstverständlicher Teil unserer Gesellschaft waren. Menschen, denen man wie Bernhard Haas aus Menschenverachtung ihren Namen und die Würde nahm und sie als Nummer ermordete.«
TAFELN Knobloch machte in diesem Zusammenhang deutlich, dass die Stelen und Tafeln auf der einen Seite an die menschliche Natur erinnerten, an die Fähigkeit zum Bösen. Auf der anderen Seite, so die IKG-Präsidentin, »mahnen sie uns zu dem, was auch zur Natur des Menschen gehört: die Fähigkeit zum Guten«. Jeder könne sich selbst für das eine oder das andere entscheiden, jeden Tag aufs Neue.
So sehr sich die Zeremonien an den neuen Stelen-Standorten auch ähneln mögen, so sehr unterscheiden sich die dahinterstehenden Schicksale voneinander. Das wurde auch bei der Feierstunde am 20. November in der Bürkleinstraße 20 (früher Hausnummer 16) wieder deutlich. In diesem Haus, einem sogenannten Judenhaus, hatten die Nazis 72 zuvor enteignete und entrechtete jüdische Männer, Frauen und Kinder auf engstem Raum ghettoisiert.
Simon Kissinger, Ferdinand, Julius, Jenny, Albert und Manfred Kissinger, Emanuel Kocherthaler, Henriette Lipkowitz, Ida, Salamon und Centa Gitl Silber: Alle wohnten im sogenannten Judenhaus, alle wurden ermordet, an alle wird jetzt mit Gedenktafeln und Stelen erinnert. Insgesamt wurden an diesem Tag vier Erinnerungszeichen angebracht, unter anderem auch in der Widenmayerstraße 36 und in der Corneliusstraße 2.
VERGANGENHEIT Ellen Presser, die Leiterin der IKG-Kulturabteilung, die in Vertretung für die Präsidentin gekommen war, erinnerte vor der Bürkleinstraße 20 an die Zeit, in der sich München seiner Vergangenheit nicht gestellt und die jüdischen Menschen alleingelassen hatte. Erst mit Beginn der öffentlichen Namenslesungen am Gedenkstein der (zerstörten) Synagoge in der Herzog-Max-Straße im Jahr 1998 sei ein entscheidender Schritt auf dem Weg der Aufarbeitung vollzogen worden.
Das Datum 20. November für die Installation der Gedenktafeln und Stelen war nicht zufällig gewählt worden. Genau 77 Jahre zuvor hatte die erste und zugleich größte Deportation von Münchner Juden stattgefunden.
Das Datum 20. November für die Installation der Gedenktafeln und Stelen war nicht zufällig gewählt worden. Genau 77 Jahre zuvor hatte die erste und zugleich größte Deportation von Münchner Juden stattgefunden. 1000 Menschen, darunter auch die, deren Namen und Fotos sich jetzt auf den Tafeln finden, wurden in Vernichtungslager wie Kaunas gebracht und ermordet.
An die Öffentlichkeit richtete Ellen Presser mehr als ein Dreivierteljahrhundert später einen Appell: »Ihre Namen und die der anderen Opfer zu nennen, ihre Schicksale zu rekonstruieren und öffentlich zu machen, ist geradezu eine heilige Pflicht. Niemand darf vergessen, keine Schandtat verschwiegen werden. Die Erinnerung muss möglichst konkret und würdevoll auf Augenhöhe im öffentlichen Bewusstsein erhalten werden.«